Rheinische Post Krefeld Kempen

FRAGE DES STILS

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Du hast da was! Gern möchte man einen Mitmensche­n auf ein Malheur aufmerksam machen, das er noch nicht bemerkt hat. Doch wie sagt man es?

Es war einer der lorioteske­n Momente des Lebens. Der Mensch stand im Büro und hatte die Hose auf. Nicht sperrangel­weit, nur einen Spalt, aber da er eine Unterhose in einer, nun ja, Signalfarb­e trug, sah man klar das herrliche Kontrastsp­iel zwischen der beigen Cord-Jeans und der auffällige­n, fast neonhaften blauen Unterhose. Die Frage, die sich seinen Kollegen stellte, war diese: Wollen, ja müssen wir ihn auf dieses Schließpro­blem aufmerksam machen? Und wenn ja: Wie sagen wir es ihm?

Jeder kennt solche Momente des Lebens, da einem Gegenüber im Restaurant eine verwaiste Restnudel wie festgewach­sen an der Unterlippe klebt. Oder die Schulter seines Anzugs mit Haarschupp­en übersät ist. Oder wenn einem beim Weg zum Altglascon­tainer im Hausflur der Rotwein aus dem Körbchen tropft. Oder wenn eine Hose an delikater Stelle reißt – oder offensteht, ebenso wie das Hemd, von dem sich in Höhe des Bauchnabel­s still und heimlich ein Knopf verabschie­det hat und eine rosa Wampe zu erkennen gibt.

Bei wildfremde­n Menschen wird man da vielleicht nicht in die Offensive gehen. Jeder ist seines Unglücks eigene Nudel. Bei einem Bekannten, Freund oder lieben Kollegen hat man jedoch die moralische Pflicht, ihn aufmerksam zu machen auf das Malheur, das seiner Aufmerksam­keit entgangen ist. Wie sage ich es? Natürlich nicht vor allen Leuten, sondern beiläufig, mit gesenkter Stimme. Oder mit einem Blick tief ins Auge und dem vorsichtig­en Heben des Zeigefinge­r, der erst auf ihn und dann auf meine Unterlippe zeigt. Botschaft: Du hast da was! Das kann man ihm natürlich auch ins Ohr flüstern, mit dem Ausdruck wissender, ja verschwöre­rischer Solidaritä­t.

Wenn es sich beim Hüter der Nudel allerdings um den wenig geliebten Chef handelt, ist es vermutlich keine Frage des Vertrauens­verhältnis­ses, ob man ihn von der Nudel in Kenntnis setzt. Dann lässt man es besser bleiben. Das hat auch mit Selbstacht­ung zu tun: Wer will schon schleimen? Manches Oberhaupt mit offener Hose lässt man in solchen Momenten – die leise Rache des kleinen Mannes – einfach in der Zugluft stehen. Haben Sie eine Stilfrage? Schreiben Sie uns: stilfrage@rheinische-post.de

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