Rheinische Post Krefeld Kempen
GASTBEITRAG HORST OBDENBUSCH Die eigene Lebensstraße entrollen
Wir baten Horst Obdenbusch, den scheidenden Direktor des Gymnasiums Fabritianum, einen Gruß an die diesjährigen Abiturienten zu schreiben. Er ging unter anderem auf das bewegende Bild eines irakischen Flüchtlings ein.
Wer will das denn noch wissen? „Sehr geehrter Herr …,
anlässlich unseres diesjährigen Abiturs möchten wir Sie herzlich bitten, uns einige Ratschläge mit auf den zukünftigen Weg zu geben, die uns helfen, das Abenteuer „Leben“erfolgreich zu bestehen.“
Annähernd so lauteten Schreiben eines Abiturientenjahrgangs des Fabritianum in den frühen 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, also vor mehr als 60 Jahren, an moralische, politische und geistige Größen der jungen deutschen Republik. Unter den Angeschriebenen waren unter anderem der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, Carl Frings, der Erzbischof von Köln, und der Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizäcker. Und fast alle antworteten den jungen Abiturienten. Die gesammelten Briefe wurden als „Abi-Zeitung“veröffentlicht und liegen heute noch im Archiv des Fabritianum.
Damals wandten sich junge Erwachsene mit Reifezeugnis an ältere Autoritäten, denn sie spürten, dass zur schulischen Reife noch mehr gehört als ein Zeugnis, etwas, was ältere Erwachsene hatten, sie aber noch nicht. Eine bemerkenswerte Einsicht und Haltung für Heranwachsende, würde man heute sagen.
Wollen aber heute Abiturienten noch wissen, was wir Alten oder gar vergleichbare Autoritäten wie die oben genannten, ihnen zu sagen haben? Als scheidender Lehrer und Schulleiter, der ich mich nicht zu den Autoritäten zähle, will ich dennoch versuchen, den diesjährigen Abiturienten etwas mit auf den Weg zu geben. Als Lehrer hat man damit zu leben gelernt, dass junge Menschen vieles scheinbar nicht hören wollen, was wir Älteren ihnen sagen, dann ist man aber später häufig verblüfft, doch Spuren des Denkens, Handelns und Wertens gelegt zu haben, die einen gereiften Menschen ausmachen. Ich versuche es also. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten!
Unsere Demokratie hat uns allen eine nie vorher gekannte Zeitspanne des Friedens und ein nie vorher gekanntes Maß an Wohlstand gebracht. Doch Demokratie ist anstrengend und verlangt ihren Bürgern etwas ab. Leider mehren sich die Zeichen, dass sich nicht mehr alle solchen Anstrengungen unterziehen wollen, die da u.a. sind: Toleranz dem Fremden und Andersartigen gegenüber zu üben, Sachverhalte differenziert zu analysieren und nicht lediglich in schwarz und weiß zu sehen und letztlich eigene Entscheidungen zu treffen. Dagegen ist die Simplizität nichtfreier Systeme scheinbar geradezu verlockend, nimmt sie doch dem Einzelnen alles ab. Es gibt nur schwarz oder weiß, richtig oder falsch, alles Andersartige wird beseitigt und Entscheidungen für alle werden durch wenige meist Selbstbestimmte getroffen. Wollt Ihr das?
Der Mensch ist von Natur aus in unterschiedlichem Maße ehrgeizig und strebsam. Schnell besteht da die Gefahr, dass die Rechte einzelner Mitglieder einer Gesellschaft beeinträchtigt oder beschnitten werden, ja dass sich Einzelne oder Gruppen aufschwingen und sich materielle oder politische Vorteile auf Kosten anderer verschaffen. Nicht von ungefähr hat deshalb John Locke über den Staatsvertrag zwischen Staat und Bürgern philosophiert. Vieles in einem Staatsgebilde, in der Gesellschaft, hat mit
Horst Obdenbusch Moral zu tun. Manch einer scheint es da heute nicht mehr so genau zu nehmen mit der Moral, die auch Verantwortung übernehmen für die anderen der Gesellschaft bedeutet. Seid ihr bereit, Eure in der Familie und an anderer Stelle erworbenen moralisch-ethischen Konzepte auch aufrecht zu erhalten, wenn sich persönliche Vorteile bieten, die hiermit unvereinbar sind?
Jeder von Euch hat ein Recht auf eine glückliche Zukunft. Doch wie findet man sein Glück? Sicherlich kann es in einer persönlichen Beziehung liegen. Doch gehört auch Wohlstandsmaximierung dazu? Ich bin davon überzeugt, dass angesichts unserer globalen Ressourcenverknappung eine materielle Definition von Glück nicht mehr lange tragfähig ist. Die Bürger des Staates Butan gehen hier einen bemerkenswerten, einen anderen Weg zum Glück als die Menschen der hochentwickelten Welt. Wärt Ihr dazu auch bereit?
Viele von Euch sind unentschlossen, verunsichert, zaudern in ihren Entscheidungen. Entscheidungen treffen fällt vielen von Euch sicherlich viel schwerer als noch Euren Eltern. Eine unübersehbare Zahl an Informationen und Möglichkeiten erschweren die Lösungsfindung, statt sie zu beschleunigen. Hinzu kommt ein in den letzten Jahren deutlich gestiegenes Sicherheitsbedürfnis, auf keinen Fall etwas falsch zu machen. Doch sein Leben leben bedeutet auch, etwas zu wagen, eventuell etwas falsch zu machen. Habt Mut, traut Euch Entscheidungen zu. Früher sagte man „Viele Wege führen nach Rom.“Auch viele Wege führen zum Glück.
In einer Bleichstiftzeichnung hat ein irakischer Flüchtling versucht, seinen Lebenstraum darzustellen. Es könnte auch Euer Traum sein. Ein Mensch rollt eine Rolle, eine wie ein Teppich aufgewickelte Straße, eine leicht ansteigende Landschaft hinauf. Diese wirkt eher trist, entmutigend, und keine helfenden Hände strecken sich ihm entgegen. Die bereits abgerollte Straße zeigt an ihren Rändern deutlich, dass sie sich über Hindernisse gelegt hat, die im Weg standen. Ganz besonders bemerkenswert ist aber die Körperhaltung des Menschen, die eine unbändige Kraft ausstrahlt, mit der er trotz der Widrigkeiten seinen Lebensweg entrollt, nach oben, in seine Zukunft. Auch Ihr müsst Eure Lebensstraße entrollen. Habt Vertrauen in Eure eigenen Stärken. Ihr schafft das, aber… Ihr selbst müsst es unbedingt wollen. Es ist Euer Weg, Eure Zukunft.
„Habt Mut, traut Euch Entscheidun
gen zu“ Scheidender Direktor des Gymnasiums Fabritianum
Mit besten Grüßen Horst Obdenbusch Der Autor war lange Jahre Direktor des Gymnasium Fabritianum und scheidet mit dem Ende dieses Schuljahres aus dem Dienst aus.