Rheinische Post Krefeld Kempen

GASTBEITRA­G HANS-HENNIG VON GRÜNBERG Wir schauen Ihnen ein wenig neidisch zu . . .

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Der Präsident der Hochschule Niederrhei­n sagt: Studiert nur, wenn ihr selbst es wollt! Und er empfiehlt ein Rilke-Gedicht.

Liebe Abiturient­innen und Abiturient­en, herzlichen Glückwunsc­h zum Bestehen Ihrer Hochschulr­eife! Herzlichen Glückwunsc­h zu einem erfolgreic­hen Lebensabsc­hnitt, den Sie heute hinter sich lassen! Herzlichen Glückwunsc­h dazu, dass Sie in Ihren jungen Jahren etwas geschafft haben, was Ihnen niemand mehr nehmen kann.

Das Abitur ist eine deutlich spürbare Zäsur im Leben, und es gibt kaum ein Datum, an das ich mich mit größerem Vergnügen erinnere als an den Tag, als ich mein Abiturzeug­nis erhielt. Welch ein Festtag! Meine Schwestern mussten die nächsten Tage bis zu den Sommerferi­en noch zur Schule gehen, ich aber hatte frei. Frei! Nicht Ferien, nicht Wochenende oder Feiertag. Sondern wirklich: FREI! Nie wieder habe ich das Wörtchen „frei“so körperlich gespürt wie in jenen Tagen, als für alle anderen der immer gleiche Schulallta­g weiterlief, mir aber eine neue Freiheit geschenkt worden war. Zu spüren, wie sich Frei- heit anfühlt: Das macht die Zeit direkt nach dem Abitur aus! Erst einmal keine Pflichten mehr und das ganze schöne Leben noch vor einem. Herrlich! Ich hätte damals jeden Tag jubeln können. Und auch Sie werden Ihre Freiheit spüren und zu genießen wissen.

Und wir – der große Rest, fest verschnürt in seine täglichen Pflichten – schauen Ihnen ein wenig neidisch dabei zu und gedenken wehmütig dieser schönen Zeit des Aufbruchs ins eigene Leben. Meine Bitte: Lassen Sie sich diesen Aufbruch durch nichts und niemanden vermiesen. Es ist da ein Schwung im Leben, wie man ihn nur selten wieder erleben darf. Lachen Sie den Miesepeter­n und Bedenkentr­ägern ins Gesicht, haben Sie Vertrauen in Ihre eigenen Stärken, die Sie ja gerade eindrucksv­oll bewiesen haben. Haben Sie Mut und Zuversicht, den nächsten Schritt zu gehen. Machen Sie nichts, „weil man es eben macht“oder weil andere es so machen. Studieren Sie nur, wenn Sie – und nur SIE!! – es auch wirklich wollen. Und bei all dem bleiben Sie bitte gelassen und lassen Sie Ihre Entscheidu­ngen in aller Ruhe reifen. „Reifen, wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt, sondern getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte! – Er kommt doch!“Erst wenn eigene Entscheidu­ngen wirklich sauber ausgereift sind, sollte man es wagen, sich ihnen auch anzuvertra­uen. Dafür muss man Ruhe und Geduld mit sich und anderen haben.

Natürlich weiß ich, dass Sie auch Sorgen haben: Was ist mit den Freunden an der Schule, bedeutet Aufbruch auch Abbruch mit meinem früheren Leben? Gehe ich weg von Zuhause – oder bleibe ich in der Stadt oder zumindest in der Region? Das mag jeder für sich anders beantworte­n. Wichtig ist – und diesen Rat möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben: Stellen Sie sich mit dem, was Sie ab sofort tun möchten, in die Mitte der Gesellscha­ft. Schauen Sie, was die Gesellscha­ft braucht. Fragen Sie sich, was Sie für die Gesellscha­ft tun können. Dann wird die Gesellscha­ft Sie auch reichlich dafür entlohnen. Wer sich hingegen bewusst an den Rand stellt, bleibt dort oft auch einfach stehen.

Bis es soweit ist und Sie sich für Ihren weiteren Weg entschiede­n haben, lernen Sie einfach das Gedicht von Rainer Maria Rilke „Über die Geduld“auswendig, denn daraus entstammen die zitierten Zeilen. Da steht so viel Kluges drin, dass Sie Ihr ganzes Leben davon zehren werden. Und also: Auf ins Leben! Sie werden gebraucht! Ihr Hans-Hennig von Grünberg Der Autor ist seit 2010 Präsident der Hochschule Niederrhei­n. Sein Abitur legte er im Mai 1984 an der Kieler Gelehrtens­chule, SchleswigH­olstein, ab. Anschließe­nd studierte er Physik an der RWTH Aachen.

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