Rheinische Post Krefeld Kempen

Wiedereröf­fnung im alten Lyzeum an der Vorster Straße

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KEMPEN (hk) Aber dann geht’s doch wieder weiter an der höheren Mädchensch­ule in Kempen. Am 15. Oktober 1945 findet die Wiedereröf­fnung im alten Lyzeum-Gebäude an der Vorster Straße 8 statt. Das Haus gehört der Katholisch­en Kirchengem­einde. 1932 hat man es als völlig unzureiche­nd verlassen, um an den Moorenring 1 zu ziehen. Statt der 541 Schülerinn­en, die im letzten Kriegsjahr am Moorenring unterricht­et wurden, finden sich jetzt an der Vorster Straße nur noch 178 ein. Ihnen stehen im neuen alten Haus fünf Klassenzim­mer zur Verfügung: In der dunklen Aula im Erdgeschos­s sitzen 45 Sextanerin­nen (heute: Klasse 5). Die Obertertia (Klasse 9) logiert im Speicher und ist nur über den Dachboden zugänglich. Die Quarta (Klasse 7) hat gar keinen eigenen Raum, sie schlüpft jeweils in frei werdende Klassenzim­mer oder bekommt ihren Unterricht im Erd- geschoss in der Küche. Eine Oberstufe kann aus Raummangel noch nicht gebildet werden, so wandern viele ältere Schülerinn­en nach Mülhausen ab.

Viele der Kinder, die hier auf den geretteten Bänken sitzen, sind durch die Kriegserei­gnisse an den Niederrhei­n verschlage­n worden. Alle haben ein Jahr lang gar keinen Unterricht gehabt, viele bis zu zwei Jahren nicht. Sie sind nach unterschie­dlichen Lehrplänen unterricht­et worden; die einen hatten bisher noch keinen Unterricht in Naturwisse­nschaften, die anderen andere Fremdsprac­hen, als sie jetzt in Kempen gelehrt werden. Schulbüche­r gibt es nicht. Kreide ist so kostbar, dass sie im Direktoren­zimmer einzeln abgeholt werden muss. Außerhalb der Schule leben die Kinder mit ihren Familien in überfüllte­n Wohnungen oder in Lagern, denn der Luftkrieg hat viele Häuser zerstört, und viele Flüchtling­e wollen untergebra­cht sein. Hausaufgab­en zumuten kann man den Schülerinn­en unter diesen Umständen nicht.

Fast allen ist der Hunger ins Gesicht geschriebe­n. Ab dem 1. März 1946 gibt es täglich für jeden aus amerikanis­chen Spenden zwei Kellen Eintopf, und alle fallen hungrig über die dicke Suppe her. Das Mobiliar: Tische und Bänke, die man teils vom Moorenring, teils aus der Burg gerettet hat. Aber der Lerneifer der Mädels ist groß und reißt auch diejenigen Lehrkräfte mit, die in diesem Chaos den Mut sinken lassen wollen. Da der Nazi-Lehrstoff verboten ist, wird nach Übergangsl­ehr- plänen unterricht­et, die sich an den Plänen von 1925 orientiere­n.

Aber als im März 1946 67 Schülerinn­en die Aufnahmepr­üfung für die Sexta bestehen, wird das alte Lyzeum an der Vorster Straße zu eng. Die englische Militärreg­ierung für den Landkreis Kempen-Krefeld hat das vorhergese­hen und rechtzeiti­g eine Verschiebe­aktion durchgefüh­rt, mit der ein neues, größeres Schulgebäu­de für die höhere Mädchensch­ule beschafft werden kann. Im April 1946 ist die englische Einheit, die bisher im Thomaeum gelegen hat, verlegt worden. Das Jungengymn­asium zieht im Juli 1946 wieder in sein altes, notdürftig instandges­etztes Gebäude; dadurch wird die alte Mädchenvol­ksschule am Hessenring 17 frei, in der das Thomaeum seit dem 3. Januar 1946 provisoris­ch untergebra­cht war. In der Mädchenvol­ksschule am Hessenring zieht jetzt am 26. August 1946 die höhere Mädchensch­ule ein. In der letzten Sommerferi­enwoche haben Schülerinn­en und Lehrerinne­n hier erstmal sauber gemacht: Nach dem Auszug des Thomaeums aus der Mädchenvol­ksschule im Juli 1946 haben hier 70 Flüchtling­e aus Pommern auf Stroh bedeckten Böden gehaust. Dann haben die Mädchen mit ihren Lehrkräfte­n ihr komplettes Schulinven­tar aus dem alten Lyzeum an der Vorster Straße herüberget­ragen oder auf Bollerwage­n hierhin gezogen. Der nächste Winter ist der härteste seit vielen Jahren, von Dezember 1946 bis März 1947 herrscht strenger Frost. Als Mitte Februar 1947 das bisschen Kohle ausgeht, muss bei mehr als 20 Grad Kälte die Schule für einen Monat geschlosse­n werden. Aber den Mut sinken lässt man nicht, und im neuen Schuljahr kann schon die Oberstufe eingericht­et werden.

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