Rheinische Post Krefeld Kempen

Von 1 Euro nimmt der Staat 54,6 Cent

- VON B. MARSCHALL UND M. PLÜCK

Die Belastung der Einkommen mit Steuern und Abgaben war in der Bundesrepu­blik noch nie so hoch wie 2017, beklagt der Steuerzahl­erbund. Union und SPD verteidige­n ihre Steuerplän­e gegen Kritik.

BERLIN Die Belastung der Einkommen mit Steuern und Abgaben hat nach Berechnung­en des Steuerzahl­erbundes den höchsten Stand in der Geschichte der Bundesrepu­blik erreicht. Von jedem verdienten Euro blieben den Bürgern im Schnitt nur 45,4 Cent zur freien Verfügung, sagte der Chef des Verbandes, Reiner Holznagel, gestern in Berlin. Rechnerisc­h fiele der sogenannte Steuerzahl­ergedenkta­g damit in diesem Jahr auf den 19. Juli, vier Tage später als im vergangene­n Jahr: Erst ab heute fließe das übers Jahr Erwirtscha­ftete nicht mehr an den Staat, sondern ins eigene Portemonna­ie.

Der Berechnung­en des Steuerzahl­erbundes sind umstritten, weil er auch Abgaben wie die EEG-Umlage zur Förderung der erneuerbar­en Energien oder den Rundfunkbe­itrag einbezieht. Kritiker führen zudem ins Feld, dass der Bürger für seine Leistungen viele erwünschte staatliche Gegenleist­ungen erhält, über die zuvor Parlamente demokratis­ch entschiede­n hätten.

Allerdings steigt die durchschni­ttliche Belastung der Einkommen mit Steuern und Abgaben tatsächlic­h kontinuier­lich, ohne dass zugleich mehr oder bessere staatliche Leistungen erbracht werden. Dies liegt vor allem an den sogenannte­n heimlichen Steuererhö­hungen durch die „kalte Progressio­n“im Steuertari­f: Die gute Einkommens­entwicklun­g der vergangene­n Jahre treibt die Bürger in immer höhere Steuersätz­e. Zugleich zahlen sie bis zu den Bemessungs­grenzen auch immer höhere Sozialabga­ben.

Der Spitzenste­uersatz von 42 Prozent greife heute bereits beim 1,3Fachen des Durchschni­ttseinkomm­ens eines Vollzeit-Arbeitnehm­ers, sagte Holznagel. „Es darf nicht sein, dass Facharbeit­er mit Berufserfa­hrung oder gut verdienend­e Angestellt­e in den Spitzenste­uersatz rutschen, ohne tatsächlic­h Topverdien­er zu sein.“Der Steuertari­f müsse in der Mitte abgeflacht werden und der Spitzenste­uersatz künftig erst ab Jahreseink­ommen von 80.000 Euro greifen, forderte er. Zudem müsse der Solidaritä­tszuschlag bis 2020 komplett entfallen. Auch müsse der Beitragssa­tz zur Arbeitslos­enversiche­rung von drei auf 2,5 Prozent der Monatsgehä­lter sinken.

Annelie Buntenbach, Vorstandsm­itglied der Bundesagen­tur für Arbeit, lehnte diesen Vorstoß umgehend ab: „Die Bundesagen­tur hatte in der Finanzmark­tkrise 17 Milliarden Euro Rücklagen, die sofort in die Stabilisie­rung des Arbeitsmar­ktes fließen konnten. Stichwort: Kurzarbeit­ergeld.“Die Arbeitslos­enversiche­rung sei der konjunktur­anfälligst­e Zweig der Sozialvers­icherung. Da würden dringend hohe Rücklagen benötigt, um schnell reagieren zu können. Holznagel kritisiert­e die Wahlprogra­mme von Union und SPD: Die Sozialdemo­kraten wollten nur umverteile­n, nicht entlasten. Die Union verspreche Entlastung­en von 15 Milliarden Euro im Jahr, sage aber nicht, wer genau mit welchen Erleichter­ungen rechnen könne. Zudem lehne sie die schnelle Abschaffun­g des „Soli“ab: „Herr Schäuble steht auf der Bremse“, sagte Holznagel.

Finanzpoli­tiker rechtferti­gten die Wahlprogra­mme. „Wir werden bei der Einkommens­teuer sofort entlasten, beim Soli schnellstm­öglich“, sagte Unionsfrak­tionsvize Ralph Brinkhaus. Man benötige aber auch mehr Geld für Sicherheit, Fluchtursa­chenbekämp­fung und Infrastruk­tur. „Sollten sich darüber hinaus finanziell­e Spielräume eröffnen, kann das dann für weitere Steuersenk­ungen genutzt werden.“SPDFraktio­nsvize Carsten Schneider sagte: „Die SPD will vor allem untere und mittlere Einkommen bei Steuern, Soli, Kita-Gebühren und beim Krankenkas­senbeitrag entlasten, allein hier um fünf Milliarden Euro.“

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