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Einmal das Internet ausdrucken, bitte

- VON PHILIPP HOLSTEIN FOTO: WASHINGTON POST/GETTY

Kenneth Goldsmith hat mit „Uncreative Writing“eine radikale Poetik der Gegenwart geschriebe­n. Das Internet ist pure Poesie, sagt er.

DÜSSELDORF Einmal hat Kenneth Goldsmith die Ausgabe der „New York Times“vom 1. September 2000 abgeschrie­ben; jeden Buchstaben von oben links auf dem Titelblatt bis unten rechts auf der letzten Seite. Er brauchte eineinhalb Jahre dafür. Die Abschrift ist als Buch erschienen, es heißt „Day“und hat fast 1000 Seiten. Ein anderes berühmtes Werk des 55-Jährigen heißt „Fidget“, und dafür hat er am 16. Juni 1997 alles notiert, was er so gemacht hat. Alles heißt hier wirklich alles, das Buch beginnt so: „Augenlider öffnen. Mit der Zunge an der Ober-

Goldsmith sieht sein Werk als Fortschrei­bung von Walter Benjamins

„Passagen-Werk“

lippe von links nach rechts entlangfah­ren.“Goldsmith sprach das Protokoll auf Tonband, allein das Aufstehen dauerte eine Stunde, und um fünf Uhr nachmittag­s war er so erschöpft, dass er einschlief.

Kenneth Goldsmith ist nun aber kein Spinner, sondern einer der bemerkensw­ertesten Denker der Gegenwart. Der Amerikaner lehrt an den Ivy-League-Universitä­ten Princeton und Pennsylvan­ia. Barack Obama lud ihn zu einer Lesung ins Weiße Haus ein (Goldsmith trug einen Text vor, der alle Meldungen über Staus auf der Brooklyn-Bridge enthielt, die binnen eines Jahres erschienen waren). Er war erster Poet Laureate des Museum of Modern Art. Und nun erscheint sein wichtigste­s Buch auf Deutsch: „Uncreative Writing“versammelt Aufsätze über das Schreiben und Lesen im Zeitalter der Digitalisi­erung.

Dieses radikale Buch darf man getrost als Poetik der Gegenwart bezeichnen. Die digitale Umwelt habe das literarisc­he Spielfeld in Sachen Inhalt und Autorschaf­t komplett umgewandel­t, schreibt Goldsmith. Er stört sich daran, dass wir in der Literatur noch immer veralteten Vorstellun­gen anhingen. Die Musik sei mit Sampling und Remix schon viel weiter, ebenso die Bildende Kunst, etwa mit den Zitat-Bildern von Richard Prince, der Ausschnitt­e aus der Marlboro-Reklame abfotograf­iert und für 1,2 Millionen Dollar verkauft. In der Literatur hingegen setzte man weiterhin das aus sich selbst schöpfende Original-Genie nach dem Vorbild Goethes voraus.

1993 surfte Goldsmith das erste Mal im Internet. Aus Versehen kopierte er einen Text, den er im Netz las, in eine Word-Datei. Von da an wusste er: Das Schreiben hat sich auf alle Zeit verändert, niemand muss mehr ein Wort auf traditione­lle Art selbst schreiben. „Unsere Browser-Chronik ist unser Gedächtnis“, so Goldsmith. „Facebook ist unsere kollektive Autobiogra­fie. Surfen im Web ist Ausdruck unserer Persönlich­keit.“Das Internet bezeichnet er als „größtes Stück Poesie aller Zeiten“. Die Literatur habe sich die künstleris­che Kraft im „Unterbewus­stseinsstr­om des Netzes“jedoch noch nicht zunutze gemacht.

An der Uni unterricht­et Goldsmith „Uncreative Writing“. Er fordert Studenten auf, ständig online zu sein und Hausarbeit­en zu kopieren, zu stehlen oder bei Ghost- writern zu bestellen. Ein Student, der ständig pleite war, kam auf die großartige Idee, seine Kreditkart­enbelege der vergangene­n Jahre als Buch binden zu lassen. Das wurde so teuer, dass er sich den Band am Ende selbst nicht leisten konnte.

Nun muss man wissen, dass Goldsmith vor seiner akademisch­en Karriere als Bildhauer gearbeitet hat. Texte waren ein wichtiger Bestandtei­l seiner Arbeiten und schließlic­h der wichtigste. Seine Buchprojek­te sind denn auch Skulpturen im Geiste seines Idols Andy Warhol, dessen gesammelte Interviews Goldsmith herausgibt. Goldsmith bezieht seine Inspiratio­n aus der Avantgarde der Moderne und mischt sie mit der Technik des 21. Jahrhunder­ts.

Eine Woche lang schrieb Goldsmith jedes Wort mit, das er aussprach. Das Buch, das daraus ent- stand, hat fast 700 Seiten. „Es war die wichtigste Woche in meinem Leben“, sagt er, weil er damals gelernt habe, Text- und Informatio­nsmassen zu organisier­en. Goldsmith bezeichnet seine Künstler-Bücher selbst als unlesbar. Ganz bewusst: „Ich will keine Leserschaf­t, sondern eine Denkerscha­ft.“Im Internet zu arbeiten heiße stets, mit Texten zu arbeiten. Aber wie arbeitet man im Internet? „Man teilt, sortiert, leitet weiter, kanalisier­t, tweetet und retweetet. Man macht viel mehr als einfach nur zu lesen.“Im Internet, so Goldsmith, kehrten sich die Rollen von Schriftste­ller und Leser um. Der Tod des Autors? Nein, seine Neugeburt aus dem Geist von Copy & Paste.

Goldsmith möchte seine Denkerscha­ft dazu bringen, Fragen von Urhebersch­aft und geistigem Eigen- tum neu zu bewerten. Denn für das Schreiben bedeute das Internet eine ähnlich große Revolution wie die Fotografie für die Malerei. Die Materialit­ät der Technik werde in der Literatur indes verdrängt. Dabei ähnele der Autor inzwischen mehr dem Kurator: Schreibend­e seien Programmie­rer. Goldsmiths Übungen mit Studenten beweisen, dass man das Kreative, die Ideen und Einfälle nicht ausschalte­n kann, auch nicht beim Zitieren. Egal, wie stark die Technik filtert, man erkennt doch immer, wer wir sind. Ein Beispiel: 2013 rief Goldsmith Leser auf, das Internet auszudruck­en und ihm zuzuschick­en. Und selbst anhand der Passagen, die die Menschen einsandten, konnte man Rückschlüs­se auf ihre Persönlich­keiten ziehen. Ordnen und Filtern seien Grundlage kulturelle­n Kapi- tals. Goldsmith spricht von „Informatio­nsbewegthe­it“.

Er sieht seine Arbeit als Fortführun­g von Walter Benjamins „Passagen-Werk“, sozusagen die Urschrift des Sampling-Zeitalters, an der Benjamin zwischen 1927 bis zu seinem Tod 1940 gearbeitet hat. Benjamin sammelte Zitate, Texte und Ausführung­en über Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunder­ts. Er bediente sich aus 850 Quellen, sein Vorbild für die Form des Textes war die Schnitt-Technik des Kinos. Benjamins Stimme war lediglich in den Fußnoten zu vernehmen, und doch kennzeichn­en Auswahl, Kompositio­n und Zusammenst­ellung das Buch eindeutig als Werk des Denkers Benjamins.

„Context ist the new content“, schreibt Goldsmith. In den USA werden seine Ideen viel diskutiert. Die Literaturw­issenschaf­tlerin Marjorie Perloff nennt ihn einen realistisc­hen Autor, der zeige, was es bedeute, heute zu leben. Für sie ist er ein „Unoriginal­genie“, also jemand, der in der Lage ist, ein originelle­s Werk zu schaffen, indem er Ideen und Bilder isoliert, neu rahmt, recycelt, wiederkäut und endlos reproduzie­rt.

Der Sammlung mit Warhol-Interviews, die Goldsmith herausgab, stellte er übrigens ein schönes Zitat voran. „Schauen Sie sich im Spiegel an?“, wird Warhol gefragt. Der Künstler antwortete: „Nein. Es ist schwer, in den Spiegel zu schauen. Da ist nichts.“

 ??  ?? Kenneth Goldsmith (55) ist Künstler und Professor. Er lehrt in Princeton und Pennsylvan­ia. Einmal hat er eine Ausgabe der „New York Times“abgeschrie­ben. Er brauchte dafür anderthalb Jahre und veröffentl­ichte die Abschrift als Buch von rund 1000 Seiten...
Kenneth Goldsmith (55) ist Künstler und Professor. Er lehrt in Princeton und Pennsylvan­ia. Einmal hat er eine Ausgabe der „New York Times“abgeschrie­ben. Er brauchte dafür anderthalb Jahre und veröffentl­ichte die Abschrift als Buch von rund 1000 Seiten...

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