Rheinische Post Krefeld Kempen

Das hat uns noch gefehlt: der erste EU-Roman

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Der Österreich­er Robert Menasse hat mit „Die Hauptstadt“ein grandioses Brüssel-Buch geschriebe­n.

DÜSSELDORF Natürlich führt einen der Titel hinters Licht. Oder er entlarvt uns, weil wir vielleicht immer noch nicht kapiert haben, dass mit der „Hauptstadt“gar nicht Berlin gemeint ist, auch nicht London und nicht Paris, sondern unser aller Hauptstadt: Brüssel eben.

Das ist der erste Erkenntnis­gewinn, bevor es richtig losgeht in einem der besten Romane dieses Sommers: dass wir nämlich Europäer sind, dass unsere Hauptstadt Brüssel heißt und das seit so vielen Jahren schon, dass sie jetzt Stoff großer Literatur werden konnte. Ihr Autor ist der Österreich­er Robert Menasse, der nicht nur blitzgesch­eit und ein formidable­r Erzähler ist, sondern auch ein echter EuropaKenn­er. Einer, der Europa liebt und daran verzweifel­t, und der schließlic­h in der Entwicklun­g der EU ein Buddenbroo­ks-Prinzip zu erkennen glaubt: Eine Generation gründet etwas, die andere baut etwas auf, die dritte hält es ungefähr auf diesem Stand und die vierte fährt die ganze Sache an die Wand – eine Art Entwicklun­gsroman also.

Menasses „Hauptstadt“aber soll ein Krimi sein, das heißt: Er ist herrlich eigenartig geraten. Zumindest geschieht im Brüsseler Hotel Atlas gleich zu Beginn ein Mord, allerdings müssen die Ermittlung­en auf Anordnung sogenannte­r höherer Stellen alsbald eingestell­t werden. Stattdesse­n wird zur Tatzeit und in der Nähe des Tatorts ein freilaufen­des Schwein gesichtet – überwiegen­d von jenen Menschen, die dann zum Hauptperso­nal dieses tollen Buchs zählen werden.

Die meisten von ihnen sind Mitarbeite­r in europäisch­en Kommission­en; sie planen Aufstiege, verzweifel­n am Job, sie kämpfen um irgendwelc­he Kompetenze­n, denunziere­n, was das Zeug hält, und wurschteln sich so durch. Besonders mickrig im Ansehen ist das Kulturress­ort, dessen Leitung darum auch Griechenla­nd zugeschlag­en wird. Ausgerechn­et diese „Arche“(wie das Ressort sich selbst verbittert nennt) soll ein „Jubilee Project“ausarbeite­n, mit dem Europas Ansehen endlich wachsen und gedeihen soll. All das wird wunderbar erzählt, komisch, nachdenkli­ch, liebevoll irrwitzig – wie die neuen Fahrradkur­se für EU-Mitarbeite­r, denen zur Einführung Personaltr­ainer an die Seite gestellt werden.

Das Buch liest sich aber nur scheinbar leicht und unterhalts­am; es berührt auf seine besondere Weise die Themen unseres Jahrhunder­ts, wenn der deutsche EU-Mitarbeite­r Martin Susmann zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz sich im bitterkalt­en Birkenau „fast den Tod holt“. Und auf dessen Guest-of-Honour-Karte notiert ist, dass er beim Verlust dieses Auswei- se „keine Aufenthalt­sberechtig­ung im Lager“habe.

So meisterhaf­t, wie Wolfgang Koeppen die junge Bundesrepu­blik literarisc­h verewigte, so souverän nimmt sich Robert Menasse Europa an. „Die Hauptstadt“endet im Medien-Gesumse. Eine Tageszeitu­ng ruft dazu auf, dem gesichtete­n und schon bald wieder verschwund­enen Schwein einen Namen zu geben. Das eskaliert, auch politisch: Mit Tausenden Likes führt nämlich der Name Mohamed. Verraten ist damit noch nichts. Immerhin erwarten den Leser noch weitere 458 glitzernde Seiten eines sauguten Romans.

Robert Menasse Suhrkamp, 459 S., 24 Euro

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