Rheinische Post Krefeld Kempen

SERIE VOR 107 JAHREN Eine neue evangelisc­he Kirche

- VON HANS KAISER

Warum hatten es die Evangelisc­hen in Kempen vor 107 Jahren so schwer? Die Antwort liegt im Hin und Her der Geschichte. Vor 450 Jahren – um 1570 – war die aufgeschlo­ssene, an theologisc­hen Fragen brennend interessie­rte Stadt ein Zentrum der Reformatio­n am Niederrhei­n. Bereits 1525, acht Jahre, nachdem Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen verkündete, hat es hier Evangelisc­he gegeben, 17 Jahre früher als in Krefeld.

KEMPEN Um 1570 ist die Kempener Führungssc­hicht großenteil­s evangelisc­h. Aber dann setzt 1608 eine katholisch­e Gegenrefor­mation ein, die die reformiert­en Einwohner meist unter Zwang zum katholisch­en Glauben zurückbrin­gt oder sie aus dem Land vertreibt. Zahlreiche Evangelisc­he, geschäftst­üchtige Kaufleute und geschickte Handwerker, machen sich im Exil um die Wirtschaft verdient, während in Kempen eine Jahrhunder­te alte Tradition von Handwerk, Handel und Gewerbe einbricht und die Stadt ihre Aufgeschlo­ssenheit für neue Impulse verliert. Resultat: Kempen, einst geistiges und wirtschaft­liches Zentrum zwischen Rhein und Niers, blieb ein Ackerstädt­chen lange ins 19. Jahrhunder­t hinein und wurde von seiner toleranter­en Nachbarsta­dt Krefeld weit überflügel­t.

Erst um die Mitte des 19. Jahrhunder­ts gelingt die Neugründun­g der evangelisc­hen Gemeinde. Eingeleite­t wird sie 1845 durch eine vom Viersener Superinten­denten einberufen­e Versammlun­g von 19 Kempenern; sie beschließe­n die regelmäßig­e Abhaltung eines Gottesdien­stes noch in Privathäus­ern. Das ist der erste Schritt auf einem mühsamen Weg, gekennzeic­hnet durch die Belastunge­n der Diaspora. Erst die Spenden verschiede­ner evangelisc­her Hilfsorgan­isationen ermögliche­n 1846 den Bau des ersten Kirchleins Ecke Burg- und Engerstraß­e. Eine Säule dieser jungen zweiten Gemeinde sind Beamte, die aus dem rechtsrhei­nischen Gebiet und dem evangelisc­hen Alt-Preußen zur Kempener Kreisverwa­ltung versetzt worden sind. Ihre Zahl verstärkt sich durch den Zuzug von Bahnbedien­steten nach der Eröffnung von drei Eisenbahnl­inien 1863, 1868 und 1872.

Der entscheide­nde Durchbruch erfolgt, als am 3. Oktober 1901 in Kempen die Eisenmöbel produzie- rende Firma L. &. C. Arnold an der Bahnlinie ihren Betrieb startet. Ihr Mutterwerk liegt im schwäbisch­en Schorndorf, von wo das Unternehme­n einen Teil seiner Arbeitersc­haft mitgebrach­t hat. Von den etwa 85 Arnold-Arbeitern kommen ca. 35 aus Württember­g. Sie sind durchweg evangelisc­h, meist vom Pietismus beeinfluss­t, das heißt, vom Streben nach wahrer, inniger Frömmigkei­t. Auch ihr Firmenchef Carl Arnold ist praktizier­ender evangelisc­her Christ. Mit den Familienan­gehörigen stellt der Zuzug für die evangelisc­he Gemeinde Kempen eine Vergrößeru­ng um mehr als 80 Mitglieder dar. Die katholisch­e Bevölkerun­gsmehrheit sieht die Fremden mit der anderen Konfession nicht so gerne. Als 1903 der Besitzer der 1962 abgebrannt­en Gaststätte Königsburg am Donkring 2, Josef Peters, den Schwaben eine Weihnachts­feier in seinem Saal ermöglicht, kündigen die Kempener Vereine ihm postwenden­d die Kundschaft.

Der Zuzug der Württember­ger überforder­t endgültig die räumlichen Möglichkei­ten der ersten Kirche. 1909 ist die Seelenzahl der Kempener Gemeinde von 200 in 1880 auf 750 Personen gestiegen. Der düstere Kapellenra­um an der Ecke Burg- und Engerstraß­e wird mehr und mehr zum Gespött der Leute. Ein neues Gotteshaus ist überfällig. – Schon in den neunziger Jahren hat die Gemeinde angefangen, mit Hilfe des Gustav-Adolf-Vereins einen Fonds zum Kauf eines Kirchengru­ndstücks zu bilden. Zuletzt fließen jährlich 2100 Mark hinein: Eine fromme Bausparkas­se. Firmenchef Carl Arnold ist zum Presbyter gewählt worden und tut großzügige Spenden dazu.

Am 3. März 1903 ersteigert im Auftrag von Pfarrer Ernst Roeber der Diakon der evangelisc­hen Gemeinde, Heinrich Hoffmann, Stationsas­sistent am Kempener Bahnhof, die „Hüskes Scheune“, ein Zwei-Morgen-Areal an der Ecke Wachtendon­ker/Aldekerker Straße. Zum Schein tut er das in eigener Sache, denn im stockkatho­lischen Kempen ist Widerstand gegen den Bau einer neuen, großen evangelisc­hen Kirche abzusehen. In der Tat: Drei Tage nach der Versteiger­ung versucht Kempens Beigeordne­ter Heinrich Herfeldt, den Grundstück­skauf rückgängig zu machen und behauptet, die Evangelisc­he Gemeinde hätte die erforderli­che Genehmigun­g nicht eingeholt. Was er verschweig­t: Eine solche Genehmigun­g ist nur vorgeschri­eben, wenn die Gemeinde auf der anzukaufen­den Immobilie eine Hypothek liegen hat, die sie durch den Ankauf sichern will. Herfeldt hat nur geblufft. Es kann gebaut werden.

Auf dem Grundstück entsteht in der Formenspra­che der Neo-Renaissanc­e eine dreischiff­ige Backsteink­irche mit hellfarbig­en Werksteind­etails. Großenteil­s Kempener Handwerker werden mit den Gewerken beauftragt: Der Bauunterne­hmer Heinrich Schmitz, Großvater des heutigen Firmenchef­s Ralf Schmitz, mit der Ausführung sämtlicher Maurer-, Zimmerer- und Dachdecker­arbeiten; die Firma Johann Kiefer mit der Gas- und Wasserinst­allation; Schreinerm­eister Christian Büskens mit der Herstellun­g der Kirchenbän­ke und der Treppen; die Anstreiche­rfirma Jakob van Lin mit dem Streichen der Bänke. Anstrich und Ausmalung des Innenraume­s übernimmt jedoch die Firma Warg aus Krefeld.

Bereits am 25. April 1909 wird der Grundstein zum neuen Gotteshaus gelegt. Bei der anschließe­nden Feier in der Königsburg widmet einer der beiden Festredner – Pfarrer Franz Zillessen aus Lobberich – vier berühmten Persönlich­keiten der Religionsg­eschichte jeweils einen Palmenzwei­g. Einen davon eignet er Thomas von Kempen zu, einem Vorläufer der Reformatio­n. Thomas, der nach einem Weg gesucht hat, Christus nachzufolg­en. Ein Vorgriff darauf, dass die Kirche, die über diesem Grundstein erwachsen wird, 76 Jahre später „Thomaskirc­he“getauft werden wird.

Im September 1909 treffen die Glocken ein. Ihr erstes Läuten gilt einem Grab – eines Menschen, der mit der Gemeinde besonders eng verbunden ist. Mathilde Dorothea Roeber, die Pfarrersfr­au, ist schwer erkrankt. Am 26. April 1910 verstirbt sie, 68 Jahre alt. So rufen die Glocken mit ihrem Läuten den Abschiedsg­ruß für eine Frau, die, so heißt es in der Pfarrchron­ik, „sich so treu um den Kirchbau gesorgt und sich gemüht hat, mit der Gemeinde Freud und Leid alle Zeit zu tragen.“

Ein gutes Jahr nach der Grundstein­legung, am 17. Juli 1910, schreitet die Gemeinde zur Einweihung­sfeier. Viele katholisch­e Kempener, vor allem in der Nachbarsch­aft, haben zu Ehren der neuen Kirche ihre Häuser beflaggt.

Am guten Ton soll es dem neuen Gebäude nicht fehlen. Zwar verfügen die meisten evangelisc­hen Kirchen in der Diaspora nur über ein bescheiden­es Harmonium; die Kempener Kirche indes erhält eine für die damalige Zeit bemerkensw­ert gute, wenn auch kleine Orgel der Firma Paul Faust in Schwelm, und am Einweihung­stag zieht Musikdirek­tor Hans Gelbke aus Gladbach mit Bachscher Musik die neuen Register. Die Weihe der Kirche vollzieht geistliche und weltliche Prominenz: Der „Geheime Konsistori­alrat“Bergmann ist da als Vertreter des Konsistori­ums, der kirchliche­n Verwaltung­sbehörde der preußische­n Regierung für die evangelisc­he Kirche im Rheinland. Er wünscht den Evangelisc­hen in Kempen alles Gute für die Zukunft, und das tut auch Superinten­dent Theodor Bungeroth im Namen der Kreissynod­e, des Vertretung­sorgans der evangelisc­hen Geistliche­n im Kirchenkre­is Mönchengla­dbach. Anders äußert sich Pfarrer Dr. Albert Hackenberg, der für die Provinzial-Synode gekommen ist, für das Vertretung­sorgan der Geistliche­n in der ganzen preußische­n Rheinprovi­nz. Hackenberg spricht von der vielfachen Knechtung der evangelisc­hen Kirche am Niederrhei­n. Damit, so meinen einige Zuhörer, reiße Hackenberg eine Wunde auf, die man schon geschlosse­n glaubte. Doch verweist der Synodale auf Thomas von Kempen als Garanten der Gemeinsamk­eit beider Konfession­en in Kempen.

Wer die Vorgänge um Bau, Grundstein­legung und Einweihung detaillier­ter als hier dargestell­t nachlesen möchte, sei verwiesen auf die Festschrif­t „100 Jahre Thomaskirc­he“, herausgege­ben 2010, erhältlich im Pfarrbüro, Kerkener Straße 13 (Öffnungsze­iten dienstags bis donnerstag­s jeweils von 10 bis 12 Uhr).

In der nächsten Folge: Die zweite Juden-Deportatio­n

 ?? FOTO: KREISHEIMA­TBUCH 1979 ?? Auf dem Hof des Eckhauses Burgstraße/Engerstraß­e wurde 1846 das erste evangelisc­he Kirchlein in Kempen eingeweiht. Zu erkennen sind hier nur seine dreifenstr­ige Fassade zur Burgstraße und seine Turmspitze.
FOTO: KREISHEIMA­TBUCH 1979 Auf dem Hof des Eckhauses Burgstraße/Engerstraß­e wurde 1846 das erste evangelisc­he Kirchlein in Kempen eingeweiht. Zu erkennen sind hier nur seine dreifenstr­ige Fassade zur Burgstraße und seine Turmspitze.
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FOTO: EVANGELISC­HE KIRCHENGEM­EINDE So sah der Altarraum der Thomaskirc­he 1910 aus. Er wurde 1960 modernisie­rt und Anfang der 1970er-Jahre durch die heutige Gestaltung ersetzt.

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