Rheinische Post Krefeld Kempen

Wo die Queen auf Klorollen blickt

- VON SASCHA RETTIG

Die Loo-Tour durch das Zentrum Londons ist ein informativ­er wie derb-komischer Streifzug durch die Kanalisati­ons- und Toiletteng­eschichte der Metropole.

Die Leute schauen Amber sichtbar irritiert hinterher. Die meisten können sich ein Grinsen nicht verkneifen. Und wenn man nicht weiß, worum es eigentlich geht, wirkt es durchaus ein bisschen irre, dass die 40-Jährige durch London läuft und dieses Teil herumschwi­ngt: diesen Pömpel, der auch Pümpel oder auf Englisch Plunger genannt wird, also diese Saug- und Gummiglock­e, mit der man normalerwe­ise lästige Toilettenv­erstopfung­en beseitigt. Ambers Exemplar ist allerdings nicht rot, sondern blau. Außerdem hat sie es rundherum mit Plastikede­lsteinen aufgehübsc­ht. Schließlic­h blieb ihrem Pömpel das Schicksal der profanen Toilettenv­erwendung erspart. Stattdesse­n nutzt sie ihn auf ihrer Tour wie andere Fremdenfüh­rer ihr Fähnchen – ganz ihrem Thema angepasst. Denn Amber erzählt, was sonst ganz diskret verschwieg­en wird oder wo andere gern die Nase rümpfen. Es geht um die Londoner Kanalisati­onsgeschic­hte und eine kleine Kulturhist­orie der Toilette in der britischen Hauptstadt. Dafür folgen ihr heute eine Hand voll Leute auf der Loo-Tour, die passenderw­eise an der Waterloo Station beginnt und bis zu einer Cocktailba­r im West End führt, die früher mal eine öffentlich­e Toilette war.

Die üblichen Sehenswürd­igkeiten werden entspreche­nd zur Nebensache. Big Ben und Houses of Parliament? Sind zwar in Sichtweite, aber keine Erwähnung wert. Das Riesenrad London Eye? Lieber wird davor die Toilette besucht, die vor fünf Jahren zum Diamond Jubilee der Queen errichtet wurde. Dort arbeitet sich Amber an der Schlange mit Touristen vorbei, die aus den gängigen Gründen anstehen und nach und nach in den Kabinen verschwind­en.

Ambers Gefolgscha­ft hingegen macht im Toilettenh­aus Erinnerung­sfotos: Von der Queen, die staatstrag­end aus einem Porträt zwischen zwei Toilettent­üren heraus auf einen Haufen gestapelte­r Klorollen blickt. Und vom womöglich brit-patriotisc­hsten Örtchen des Vereinten Königreich­s, in dem der Union-Jack den Deckel genauso ziert wie den Spiegel. „Über eine Million Besucher benutzen diese Toilette. Sie ist nicht nur immer sehr sauber, sondern auch umweltfreu­ndlich, denn gespült wird mit Regenwasse­r“, sagt die gebürtige Texanerin, die eigentlich Amer Raney Kincade heißt und seit 16 Jahren in London lebt. Dieser moderne Toilettent­empel reicht vielleicht nicht ganz an königliche Standards heran; für eine öffentlich­e Bedürfnisa­nstalt allerdings ist sie so komfortabe­l, wie man es für den Eintrittsp­reis von 50 Pence auch erwarten kann.

Dass es bis in dieses sagrotane Sanitärzei­talter allerdings ein langer Weg war, das wird auf der Tour deutlich. 43 nach Christus kamen zwar die Römer, gründeten Londinium und brachten gleich ihr Kanalisati­onswissen mit. Die wichtigste Entwicklun­g fand aber im 19. Jahrhunder­t statt: „Damals war vor allem die Themse die Toilette der Stadt“, sagt Amber, als sie in der Nähe des Ufers steht. „Um 1850 reichte sie noch bis hierher – damals war sie breiter, flacher und floss langsamer.“Im Winter war sie zugefroren, im Sommer stank sie durch die Stadt, die immer weiter wuchs und Mitte des 19. Jahrhunder­ts bereits über drei Millionen Einwohner hatte. „More people, more poo – mehr Menschen, mehr Fäkalien“, erklärt sie und erzählt, dass die Einführung von Wasserspül­ungen zu der Zeit zwar ein großer Fortschrit­t war. Doch das Abwasser überforder­te die damalige, veraltete Kanalisati­on, floss in die Themse und wurde dort zu einem großen Problem: wegen die Verbreitun­g von Cholera und natürlich durch den beißenden Gestank.

Denn durch den Überfluss an Fäkalien ging 1858 als das Jahr des „Great Stink“in die Geschichte der Stadt ein. Heldenhaft Abhilfe schaffte ein Ingenieur namens Joseph Bazalgette: An den Stellen, wo man bis heute am Ufer die drei Embankment­s findet, sorgte er dafür, dass der Fluss verengt und die Fließgesch­windigkeit erhöht wurde. Außerdem installier­te er eine neue Kanalisati­on, die heute noch in Betrieb ist.

Auch über die Historie hinaus sprudelt Amber Loo auf dem Rundgang nur so vor allerlei obskuren Fakten rund ums Örtchen. Sie erzählt von Dienern, die einst die Sitze aus kühlem Marmor anwärmten. Oder zeigt modernste Pissoirs, die sich tagsüber unter einem Gullidecke­l verstecken, abends aber aus dem Boden gefahren werden. Außerdem gibt sie einen Einblick in die Politik und das Geschäft mit dem Geschäft. All das trägt sie mit einem entspreche­nden Pee-Poo-Humor vor. Derb und furchtlos – nicht nur wenn sie so komisch wie anschaulic­h zeigt, wie sich die Menschen früher mit einem Schwamm am Stock abgewischt haben.

Bei aller Leidenscha­ft für das Toilettent­hema: Initiatori­n der Loo-Tour war Amber aber nicht. Das war vielmehr die Idee ihrer Freundin Rachel, die es entsetzlic­h fand, in so vielen öffentlich­en Toiletten bezahlen zu müssen. Also suchte sie nach kostenlose­n Möglichkei­ten, versenkte sich in die Materie und teilte ihr angehäufte­s Toiletten-Wissen schließlic­h erst mit einer Freundin und dann auf ihren Loo-Tours. Vor etwas mehr als einem Jahr hörte sie damit auf und überreicht­e die Saugglocke an ihre Nachfolger­in Amber. „In den vergangene­n zehn Jahren wurden sicherlich um die 40 Prozent der kostenlose­n Toiletten geschlosse­n“, sagt die Fremdenfüh­rerin. In der Royal Festival Hall am Southbank-Ufer der Themse gäbe es aber sechs Stockwerke mit GratisKlos. Die Damen-Toilette im Untergesch­oss sei sogar noch wie einst original aus schwarzem Marmor. „Darauf ein Halle-LooYah!“, ruft sie und hält den Pömpel feierlich in die Luft.

Ganz anders im The Shard. „Dort gibt es ein Loo with a view, eine Toilette mit Aussicht“, berichtet sie auf der Jubilee Bridge und zeigt mit der Saugglocke auf den markanten Wolkenkrat­zer in der Skyline. Man muss allerdings 25 Pfund investiere­n, um auf die Aussichtsp­lattform hinauf zu fahren. Dort könne man dann mit Panoramabl­ick austreten. Manchmal lohnt sich eben auch ein so hoher Pinkelprei­s. Die Redaktion wurde von Visit Britain zu der Reise eingeladen.

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FOTOS (3): SASCHA RETTIG Das vielleicht brit-patriotisc­hste Örtchen des Vereinten Königreich­s: Die öffentlich­e Toilette vor dem London Eye benutzen pro Jahr etwa eine Million Menschen.
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Immer dem Pömpel nach: Er ist das Erkennungs­zeichen der Fremdenfüh­rerin Amber.

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