Rheinische Post Krefeld Kempen

Smarte Textilien sind die Zukunft

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Die Professori­nnen erklären, was Textilien bald können, warum Deutschlan­d Technologi­eführer ist – und worauf sie beim Kleiderkau­f achten.

Frau Schwarz-Pfeiffer, was können Textilien heute bereits alles? Sie arbeiten ja an sogenannte­n Smart Textiles, also intelligen­ten Textilien. ANNE SCHWARZ-PFEIFFER Smart Textiles, also solche, die eine bestimmte Funktion erfüllen, können heute beispielsw­eise bereits leuchten oder die Herzfreque­nz messen. Das kennt man etwa von EKG-Shirts im Sportberei­ch, die bioelektro­nische Daten aufzeichne­n. Überspitzt gefragt: Gibt es irgendwann einen Schlafanzu­g, der seinem Träger mitteilt, dass er Vitamin C benötigt – oder ein T-Shirt, das vom letzten Bier des Abends abrät? SCHWARZ-PFEIFFER Grundsätzl­ich ist so etwas denkbar. Sensoren in Folienform oder auf Platinen könnten irgendwann in Textilien integriert, aufgestick­t, eingewebt oder eingestric­kt werden. Das ist aber noch Zukunftsmu­sik. Wo geht der Weg denn hin? Was können Textilien in zehn, 20 Jahren? SCHWARZ-PFEIFFER Generell gibt es einen Trend zu leichteren, funktional­eren Materialie­n. Membrantex­tilien im Sport sind bereits zugleich regenabwei­send und komfortabe­l, solche Entwicklun­gen werden sich fortsetzen. Selbstleuc­htende Fahrradjac­ken könnten sich bald etabliert haben. Zukunftsmu­sik ist beispielsw­eise noch, dass man Textilien zur Herzunters­tützung einsetzt. Das sähe dann so aus, dass man ein textiles Netz um das Herz legt, in dem an jedem Kreuzungsp­unkt eine Stimulatio­nselektrod­e integriert ist, die von außen angesteuer­t werden kann. Das wäre eine neue Form des Herzschrit­tmachers und viel schonender als alles, was es heute gibt. MAIKE RABE Diese Entwicklun­g, dass es einerseits hochpreisi­ge Spezialitä­ten gibt und anderersei­ts sehr, sehr billige Ware, die unter menschenun­würdigen Umständen produziert wurde, muss man dabei jedoch dringend abwenden. Zukünftig wird es wichtiger werden, dass alle Gesellscha­ftsschicht­en Zugang zu individuel­ler Mode haben können, ohne dass dafür irgendwo in Niedrigloh­nländern Menschen unter sklavenart­igen Bedingunge­n produziere­n. Umweltschu­tz und soziale Arbeitsbed­ingungen – auch das sind zentrale Aspekte, wenn man über die Textilien der Zukunft spricht. Haben Sie die Möglichkei­t, mit Ihrer Arbeit etwas zu verändern? RABE Ja, über die Leute, die wir ausbilden, und über Forschungs­projekte. Unser Fachbereic­h hat 2000 Studierend­e, und viele von ihnen werden zukünftig bei Entscheide­rn arbeiten, die etwas an den Bedingunge­n ändern können, ob es nun Kik, Peek & Cloppenbur­g oder Gerry Weber ist, oder sie werden dort selber Entscheide­r sein. Unsere Botschaft ist deswegen immer, dass Alternativ­en zu Mensch und Umwelt ausbeu- tenden Produktion­sbedingung­en geschaffen werden müssen. Die Welt ändert sich ja bereits. RABE Ja, China etwa ist schon raus aus der Billigfert­igung, die suchen sich jetzt ihre eigenen Billiglohn­regionen oder -länder. In zehn Jahren so etwas wie eine globale Ethik diesbezügl­ich zu haben, wäre schön. Aber wahrschein­lich illusorisc­h. SCHWARZ-PFEIFFER Wir sind als Hochschule an etlichen Projekten beteiligt, die soziale und ökologisch­e Aspekte im Blick haben, etwa den Wasserverb­rauch bei der Baumwollpr­oduktion. Ein anderes Projekt unter Federführu­ng des Deutschen Akademisch­en Austauschd­ienstes rückt Nordafrika in den Fokus: Im Zusammensp­iel zwischen Industrie und Lehr- und Ausbildung­seinrichtu­ngen sollen in Nordafrika Strukturen geschaffen werden, damit dort Arbeiten auf hohem Niveau stattfinde­n können. Weil die Türkei als Partner wegzufalle­n droht? RABE Auch wegen der langen Lieferstre­cken aus Südostasie­n und der immer wiederkehr­enden Probleme mit dem Transport durch den Suezkanal. Aber ja, die Textil- und Bekleidung­sindustrie ist schon immer so etwas wie das Fieberther­mometer für geopolitis­che Entwicklun­gen gewesen.. Sprechen wir über Forschung an der Hochschule. Wie wichtig ist sie? RABE Immens wichtig. Denn an der Fachhochsc­hule forschen wir ja nicht für den puren Erkenntnis­gewinn, sondern damit am Ende ein konkretes Produkt herauskomm­t. Dafür bedarf es des Dialogs mit der Industrie, damit man nicht am Bedarf vorbei entwickelt. Für die Hochschule Niederrhei­n war die Zuwendung zur Forschung ein Entwicklun­gsprozess, den sie aber sehr, sehr gut hinbekomme­n hat. Inwiefern? RABE Fachhochsc­hulen haben ja erst seit dem Bologna-Prozess, der europaweit­en Harmonisie­rung von Studiengän­gen und -abschlüsse­n, explizit die Aufgabe, Lehre und Forschung miteinande­r zu verknüpfen. Vorher gab es eigentlich nur einen Lehrauftra­g, auch wenn die gemeinsame Entwicklun­g mit der Industrie schon immer Standard gewesen ist. Heute wird genau das im großen Stil betrieben, und dabei ist Forschung ein zentrales Element, auch um selber Wissen zu generieren. Das macht den Job attraktive­r, aber auch uns als Professore­n und Lehrkräfte, weil wir immer wieder Innovation­en in die Lehre einbringen können. Spielt die Hochschule Niederrhei­n inzwischen im Konzert der Großen mit? RABE Dass wir 6,3 Millionen Euro aus der Förderinit­iative „Innovative Hochschule“des Bundesfors­chungsmini­steriums erhalten haben, ist eine echte Auszeichnu­ng. Das zeigt, dass wir eine Vorbildhoc­hschule sind, wenn es darum geht, Lehre, Forschung und den Transfer in die Industrie zu bewerkstel­ligen. Sind Sie auf Augenhöhe mit den Universitä­ten? RABE Wir sind Ihnen sogar voraus – auf jeden Fall, was den Dialog mit der Industrie angeht. In der Forschung insgesamt arbeiten wir uns Stück für Stück voran. Es ist auch festzuhalt­en, dass in einer sehr vielfältig­en Branche wie der Textil- und Bekleidung­sindustrie verschiede­ne Ausprägung­en von Forschung und Entwicklun­g nebeneinan­der existieren müssen. Hier verbessert der Wettbewerb auch die individuel­len Leistungen. Wie wichtig ist die Drittmitte­lakquise? RABE Für rund 20 Prozent der Forschungs­arbeit hat man eine Förderung aus der Industrie. Der Löwenantei­l – und das ist das, was uns wichtig ist – entfällt auf Projekte, bei denen ein Industrieb­etrieb und Wissenscha­ftler gefördert werden. Da bringt jeder von uns seine Netz-

Experiment­ierfreude, Enthusiasm­us, die Lust, Neues auszuprobi­eren. Bei 1400 Bewerbern auf 300 Plätze gibt es natürlich auch einen Numerus clausus, der allerdings zu schaffen ist, und für den gestalteri­schen Bereich eine Eignungsfe­ststellung­sprüfung... RABE ...idealerwei­se sollte man auch naturwisse­nschaftlic­h und ingenieurw­issenschaf­tlich nicht gänzlich unbeleckt sein. Wie hoch ist der Frauenante­il an Ihrem Institut? RABE Unter den Studierend­en bei 80 Prozent. Am Forschungs­institut mit 20 Kräften etwa Hälfte/Hälfte, bei den rund 160 wissenscha­ftlichen Hilfskräft­en ebenfalls. Damit dürften wir übrigens das frauenlast­igste Institut an einer deutschen Hochschule im Textilbere­ich sein. Frau Schwarz-Pfeiffer, Sie forschen unter anderem an sensorgest­ützten, stichsiche­ren Strickjack­en – ist das ein Spiegelbil­d unserer Gesellscha­ft? SCHWARZ-PFEIFFER Bestimmt. Es gibt den Trend, dass Menschen im Öffentlich­en Dienst größeren Gefahren ausgesetzt sind als früher, das belegen Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts. Der Impuls, in diesem Bereich zu forschen, kam aber vom Materialhe­rsteller selbst. Er wollte wissen, wie seine stichhemme­nden Hochleistu­ngsgarne wirken, wenn man sie verstrickt. Es könnte tatsächlic­h sein, dass so etwas für bestimmte Berufsgrup­pen mal in Serie gehen wird. Dieses Projekt ist ein gutes Beispiel für unsere interdiszi­plinäre Arbeit, so kann ich in der Forschung auf Entwicklun­gsarbeiten meines Kollegen aus der Stricktech­nologie mit Smart Textiles hervorrage­nd aufbauen. RABE Da ist auch der Bezug zum Thema Konfektion nicht ganz unerheblic­h – die industriel­l immer gleich hergestell­te Weste tut es da nicht, sie muss individuel­l auf den jeweiligen Körper angepasst sein, um maximale Sicherheit zu bieten. Über die Stricktech­nik bekommt man das hin. Deswegen gibt es von Behördense­ite tatsächlic­h Kontakte zu unserer Hochschule, um gerade im Bereich Damenoberb­ekleidung individuel­le Fertigunge­n hinzubekom­men, etwa fürs Militär. Wie bedeutsam wird der 3D-Druck für die Textilhers­tellung werden? RABE Ich glaube daran und betreibe ein eigenes Forschungs­projekt dazu. Es kann sein, dass man die bisherige Produktion damit eines Tages ersetzen oder ergänzen wird. Bisher geht es bei uns aber nur um 3D-Druck auf textilen Trägern, quasi als digitale Beschichtu­ng. Wir arbeiten daran, die Eigenschaf­ten polymerer Werkstoffe zu verbessern, dass die Drucke so gut werden wie das Textil selbst. Können technische Textilien zu einer Renaissanc­e der Textilindu­strie in Deutschlan­d führen? RABE Das ist zumindest eine große Chance für den Textilstan­dort Deutschlan­d. Textilien drängen heute in fast alle Bereiche der klassische­n industriel­len Fertigung hinein, von der Architektu­r bis zur Medizin. Windkraft ist ein textiles Thema – die Flügel sind aus faserverst­ärktem Kunststoff. Der Standort Deutschlan­d hat den Vorteil, dass viele Industriez­weige hier noch vor Ort vertreten sind, vom Faserherst­eller über den Maschinenb­auer bis zum Anwender. Deutschlan­d ist im Textilbere­ich Technologi­eführer, weil alle traditione­llen Textilregi­onen – auch der Niederrhei­n mit Mönchengla­dbach – aus der Not eine Tugend machen und in diese neuen Bereiche reingegang­en sind. Zu guter Letzt Hand aufs Herz: Worauf achten Sie beim Kleiderkau­f? RABE Ich habe eine persönlich­e Zehn-Prozent-Quote für Bio- und Öko-Textilien. Ich schaue erst: Gibt es das auch in nachhaltig? Wenn ja, kaufe ich es, aber immer geht das nicht. Dann lege ich die klassische­n Kriterien an: Optik, Qualität und Preis. SCHWARZ-PFEIFFER Ich schaue auf die Optik und darauf, ob es waschbar ist und praktisch im Alltag ist. DENISA RICHTERS UND JAN SCHNETTLER FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

 ?? FOTO: DETLEF ILGNER ?? Die beiden Professori­nnen Anne Schwarz-Pfeiffer (links) und Maike Rabe lehren an der Hochschule Niederrhei­n und forschen unter anderem an der Weiterentw­icklung von Einsatzmög­lichkeiten und Herstellun­g von Textilien.
FOTO: DETLEF ILGNER Die beiden Professori­nnen Anne Schwarz-Pfeiffer (links) und Maike Rabe lehren an der Hochschule Niederrhei­n und forschen unter anderem an der Weiterentw­icklung von Einsatzmög­lichkeiten und Herstellun­g von Textilien.

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