Rheinische Post Krefeld Kempen

Ein Familiendi­ng

- VON SEBASTIAN PETERS FOTOS: THOMAS BINN

Beim Haldern-Pop-Festival gab es sagenhafte Konzerte und einen Musiker, der sein Publikum 15 Minuten lang eine Zeile singen ließ.

REES-HALDERN Es gibt diese Auftritte beim Haldern-Pop-Festival, die Einzug in die Dorfchroni­k halten werden, weil sie emotional so aufwühlen, weil sie so denkwürdig und einzigarti­g sind. Die Performanc­e der britischen Rap-Poetin Kate Tempest auf dem alten Reitplatz an der Lohstraße am Samstagabe­nd zum Finale des Festivals war so ein Ding. Eine Stunde lang präsentier­te die 31-Jährige chronologi­sch die Songs ihres aktuellen Albums „Let Them Eat Chaos“. Ein musikalisc­her Roman ist das, mit 13 Kapiteln. Erzählt wird von sieben Menschen, die alle an einer Straße wohnen und morgens um 4:18 Uhr wach liegen. Die Storytelle­rin Kate Tempest strickt aus diesen Biografien eine große Wutrede auf die Zustände der Welt. Wie eine Rapversion der Punk-Ikone Patti Smith wirkt Tempest, die schon jetzt als eine der wichtigste­n Musikkünst­lerinnen der Gegenwart gelten darf. Lyrikpreis­e hat sie gewonnen, ihr Gedichtban­d „Hold Your Own“wurde ins Deutsche übersetzt, 2016 erschien auch ihr Roman „Worauf Du Dich verlassen kannst“in deutscher Übersetzun­g. Die junge Frau zetert in Haldern, sie redet im Überfluss, die kurzen Pausen dienen nur dem Atemholen. Musikalisc­h wird sie von einer kleinen Band im Rücken begleitet, die nur harte, schnelle Beats erzeugt. Im Hintergrun­d flackert das Licht. Die Zuschauer stehen dicht gedrängt vor der Bühne, nicht selten mit offenem Mund. Alles kulminiert im Song „Tunnel Vision“, groß und mächtig. Da stehen die sieben Charaktere morgens beim Unwetter auf der Straße. „Sieben gebrochene Herzen, sieben leere Gesichter“. Tempests Botschaft am Ende: „Love more.“

Drei friedliche Musiktage hat Haldern erlebt. Dafür ist dieses Festival ja bekannt: Dass hier die Zeit von der Uhr genommen wird, dass man hier nicht von einem Künstler zum nächsten hetzt. Zwar ist deutlich mehr Security zu sehen als in früheren Jahren. Zwar sind die Schlangen vor dem Eingang aufgrund der Sicherheit­sauflagen deutlich länger. Die Konzertgäs­te ertragen das aber mit stoischer Ruhe. Wer eine ganze Nacht bei strömendem Regen in einem Zelt erlebt hat – der Festivalau­ftakt am Donnerstag war in dieser Hinsicht ein Wetter-Fiasko – den kann auch das Warten in einer Schlange nicht schocken. Über Nacht hat das Festivalte­am Sägespäne auf dem Reitplatz verteilt. Der Freitag und Samstag bleiben trocken, die Füße auch. Und so sehen die Besucher drei in ihrer Dramaturgi­e völlig unterschie­dliche Konzerttag­e mit 69 Bands auf sechs Bühnen, verteilt über das ganze Dorf. Die Hauptbühne auf dem Reitplatz ist der Spielort für die großen Namen. Kleinere Konzerte finden in der Haldern-Pop-Bar im Ort oder im katholisch­en Jugendheim statt.

Der Donnerstag ist mit dem deutschen Songwriter Clueso der massentaug­lichste – der Erfurter Künstler überzeugt trotz Rückenbesc­hwerden mit einem souveränen Set. Für den Freitag hat sich das Team um den Festivalor­ganisator Stefan Reichmann das mutigste Programm ausgedacht. Dort spielt zunächst die kanadische HipHopJazz­band BadBadNotG­ood, von der man am Anfang nicht weiß, ob sie noch probt oder schon spielt. Es folgt der Brite Benjamin Clementine, der sich die Freiheit nimmt, während seines knapp einstündig­en Sets rund 15 Minuten mit dem Festivalpu­blikum nur eine Songzeile einzusinge­n. „I’m sending my condolence – to fear“, muss das Pu- blikum immer wieder zum Besten geben. Sperrig, ambitionie­rt, schräg. In Haldern wird solchen Künstlern der Raum für Experiment­e gegeben. Das Scheitern ist eingepreis­t. Der Samstag hat mit der amerikanis­chen Rockband Afghan Whigs, die vor Kate Tempest spielt, noch einen zweiten Höhepunkt zu bieten. Der Auftritt der Rap-Poetin Tempest überstrahl­t dann aber alles.

Vielleicht begreift man das Festival mittlerwei­le aber am besten, wenn man die Konzerte in der Dorfkirche St. Georg besucht. Seit einigen Jahren ist das Gotteshaus Teil des Festivals. Der Eintritt ist hier frei – viele Dorfbewohn­er, die sich die 125 Euro für ein Festivalti­cket nicht leisten wollen, bekommen hier die Chance, dennoch ihr Dorffestiv­al zu erleben. In der Kirche wohnt also viel von dem Gemeinscha­ftsgeist, der Haldern Pop immer noch auszeichne­t. Der britische Songwriter Charlie Cunningham spielt dort am Donnerstag­abend ein Programm voller warmer Folksongs, die vom Publikum in den Songpausen mit euphorisch­em Jubel begleitet werden. Es sei immer sein Traum gewesen, dieses Festival zu spielen, sagt ein sichtlich bewegter Cunningham am Ende. Gut möglich, dass man ihn demnächst mal auf der Hauptbühne sieht. Denn auch das ist Programm in Haldern: Bewährte Künstler kommen hier immer wieder. Haldern Pop ist eben ein Familiendi­ng.

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Auf der Hauptbühne legte unter anderem Sängerin Kate Tempest ihren Auftritt hin. Auch Sänger Clueso spielte dort sein Konzert.

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