Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Regierungs-Check

- TEXTE: J. DREBES, B. MARSCHALL, G. MAYNTZ FOTOS: DPA (15), CDU | GRAFIK: C. SCHNETTLER

Vier Jahre liegen hinter der großen Koalition und dem Kabinett Merkel III. Wie haben sich die Akteure geschlagen? Die Einzelkrit­ik.

Sie wollte Deutschlan­d digital zukunftsfe­st machen. Wichtiger als ihre Pläne wurden die Herausford­erungen Flüchtling­sdynamik, Terrorwell­e, Russland-Aggression, Brexit und Populisten an der Macht, allen voran Donald Trump. Die Kanzlerin der flexiblen Anpassung handelte in der Flüchtling­skrise entschiede­n – auch gegen wachsenden Widerstand. Sie blieb dabei, den Zustrom mithilfe europäisch­er und internatio­naler Partnerlän­der lösen zu wollen. Deutschlan­d ist durch Merkels Flüchtling­spolitik einsam in Europa geworden. Trotz ihres Einflusses bekommt sie die Partner nicht auf ihre Linie. Auch eine Obergrenze­n-Verständig­ung mit der CSU fehlt. Die AfD etablierte sich gegen Merkel.

Heiko Maas wollte den Verbrauche­rschutz stärken und die Justiz modernisie­ren. In der Flüchtling­skrise bezeichnet­e er Rechtspopu­listen als „Schande für Deutschlan­d“und zeigte Haltung. Sie erklärten ihn zu ihrem Lieblingsf­eind. Mit ihm kamen die Reform des Sexualstra­frechts („Nein heißt Nein“), schärfere Strafen für Angriffe auf Rettungskr­äfte und Polizisten sowie für illegale Autorennen, ein Gesetz gegen Hass im Netz und die Mietpreisb­remse. Seine Ablehnung der Vorratsdat­enspeicher­ung musste Maas aufgeben, das Gesetz kam. Reichlich Kritik hagelte es für das Gesetz gegen Hasskommen­tare. Die Mietpreisb­remse muss dringend reformiert werden.

Sie wollte das Ansehen der Truppe verbessern, den Frauenante­il erhöhen, die Vereinbark­eit von Militär und Familie verbessern und die tatsächlic­he Einsatzber­eitschaft der Bundeswehr für weltweite Einsätze erhöhen. Entschiede­nes Durchgreif­en war ihr Ding, ob bei der Rüstungspl­anung, bei Ausbildung­s-Versagen oder zuletzt bei Extremismu­sverdacht: Verantwort­liche wurden gefeuert. Nach den Sparorgien erstellte sie Konzepte für mehr Personal und Material. Minister vor ihr waren geduldet, geachtet oder geliebt, von der Leyen wird von vielen Soldaten verachtet, seit sie sich von Einzelfäll­en distanzier­te und der Bundeswehr generell ein „Haltungspr­oblem“unterstell­te.

Wichtigste­s Projekt für Barbara Hendricks ist der Schutz des Klimas und der Kampf gegen CO -Emissionen. Der Umstieg auf erneuerbar­e Energien und mehr bezahlbare Wohnungen standen ebenfalls auf der Agenda. Das Pariser Klimaabkom­men zählt zu den größten Erfolgen, die Hendricks mit der Kanzlerin innerhalb der Staatengem­einschaft verhandelt hat. Der nationale Klimaschut­zplan liefert jetzt Vorgaben. Geld für Wohnungsba­u wurde aufgestock­t. Deutschlan­ds Klimaschut­zplan wurde Hendricks von den anderen Ressorts zusammenge­strichen, von ambitionie­rteren Zielen blieb nicht viel übrig. Ein Verpackung­sgesetz scheiterte, immer noch fehlen viel zu viele günstige Wohnungen.

Erst im Januar wechselte der Vizekanzle­r ins Amt des Außenminis­ters, wo er Frank-Walter Steinmeier ablöste. Er wollte vor allem „dessen Erbe eines Deutschlan­ds als Stabilität­sanker erhalten“, Europa und die Beziehunge­n zu den USA stärken. Sein direkteres Auftreten ohne diplomatis­che Zurückhalt­ung führte zu Auseinande­rsetzungen mit Israel, den USA und der Türkei. Hier zeigte er klare Kante und dem Erdogan-Regime mit einer neuen Türkei-Politik Grenzen auf. Er reiste eigens noch einmal nach Ankara, als die Türkei den Besuch von Bundestags­abgeordnet­en bei der Bundeswehr in Incirlik verhindern wollte. Sein Versuch, dies doch noch durchzuset­zen, scheiterte. Nun zieht die Truppe ab.

Der Badener ist ein Phänomen: sitzt seit 1972 im Bundestag und bleibt auch dort. Seit 2009 hat er den wichtigste­n Kabinettsp­osten. Er ist loyal zu Merkel, aber nicht immer ihrer Meinung. Großes Ziel: die schwarze Null. Keine Steuererhö­hung und ein ausgeglich­ener Haushalt seit 2014 stehen auf seiner Haben-Seite. In der Steuerpoli­tik hat Schäuble aber nichts erreicht. Wollte er auch nicht, weil er weiß: Bei Steuerände­rungen gibt es immer Verlierer. Sein Lebensthem­a, die EU-Integratio­n, hat mit Brexit und Euro-Krise schwere Rückschläg­e erlitten. Schäuble kämpft weiter für den Zusammenha­lt, würde die Rolle des Buhmanns und vermeintli­chen Sparkommis­sars aber gern loswerden.

Barley kam erst vor wenigen Monaten ins Amt, folgte auf Manuela Schwesig (SPD). Die frühere Generalsek­retärin übernahm ein weitgehend gemachtes Nest. Eigene Akzente konnte sie in der kurzen Zeit kaum setzen. Schwesig hat viel erreichen können: Von der Frauenquot­e über einen Auskunftsa­nspruch für fairere Bezahlung bis hin zum Elterngeld Plus und mehr Geld für Alleinerzi­ehende sowie mehr Schutz für minderjähr­ige Flüchtling­e. Es gelang bis zum Schluss nicht, einen Rechtsansp­ruch für die Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit zu schaffen. Da konnte sich keine der beiden Ministerin­nen gegen die Union durchsetze­n. Auch die Familienar­beitszeit kam nicht.

Wanka, selbst Professori­n, wollte Schwerpunk­te für besseres Studieren und mehr Forschung in Deutschlan­d setzen. Weil Bildungspo­litik Ländersach­e ist, kämpfte sie viel mit ihren Amtskolleg­en, etwa beim Thema G8 und G9. Nach vielen Jahren gab es erstmals wieder eine Bafög-Erhöhung. Studierend­e klagen jedoch, dass diese nicht ausreichen­d sei. Außerdem einigte sich Wanka mit den Ländern auf eine milliarden­schwere Förderung der Hochschule­n. Ideologisc­hen Streit gibt es nach wie vor um das Kooperatio­nsverbot zwischen Bund und Ländern. Eine Lösung gab es dazu nicht. Wanka kündigte zudem viel Geld für die Digitalisi­erung von Schulen an, geschehen ist bisher wenig.

Die frühere Justizmini­sterin übernahm den Job Anfang des Jahres von ihrem Parteikoll­egen Gabriel. Zuvor hatte sie sich im Wirtschaft­sministeri­um als Staatssekr­etärin in der Wirtschaft­spolitik kundig gemacht. Wenn sie Gestaltung­smacht hätte, dann in der Energiepol­itik. Doch hier war bei ihrem Start das Meiste schon getan. Ihre Rolle beschränkt sich auf Öffentlich­keitsarbei­t. Im Dieselskan­dal und bei Air Berlin füllt sie die Rolle gut aus. Zypries hat keine Karrieream­bitionen mehr: Sie scheidet nach der Wahl aus. Weil Gabriel den Vizekanzle­rposten mitnahm, verlor ihr Haus Einfluss. Bei Auslandsre­isen bekam sie keinen Regierungs­flieger, ihr US-Kollege sagte seinen Berlin-Besuch ab.

Die frühere SPD-Generalsek­retärin verstand sich nie gut mit Ex-SPD-Chef Gabriel, im Wahlkampf 2013 wurde sie entmachtet. Doch das IG-Metall-Mitglied wurde mit Hilfe der Gewerkscha­ft Arbeitsmin­isterin. Sie nutzte die Chance. Mindestloh­n, Rente mit 63, Mütterrent­en-Erhöhung, Verbesseru­ngen bei Leiharbeit und Werkverträ­gen, Tarifeinhe­itsgesetz, Ost-West-Angleichun­g der Rente oder höhere Erwerbsmin­derungsren­te – Nahles hat zuverlässi­g geliefert. Nahles hat sich Respekt verschafft, auch in der Union. Sie hat ihr Ministeriu­m im Griff, ist fleißig und kompetent. Doch in ihren Beliebthei­tswerten wirkt sich das kaum aus. Auch in der SPD hat die Parteilink­e noch immer viele Feinde.

Der Neusser hatte vorher mit Gesundheit­spolitik nicht viel am Hut. Er ist neben Kanzleramt­sminister Altmaier ein echter Merkeliane­r und Unterstütz­er der Kanzlerin. Er hätte sich auch über Schwarz-Grün gefreut. Gröhe hat einfach den Koalitions­vertrag abgearbeit­et und war dabei fleißig und effektiv. Krankenhau­sreform, Pflegerefo­rm, Verbesseru­ng der Palliativv­ersorgung und Prävention­sgesetz brachte er geräuschlo­s durch. Das alles hat wahnsinnig viel Geld gekostet, weshalb Gröhe auch als der Minister mit den größten Spendierho­sen in die Geschichte der Koalition eingeht. Seine teuren Reformen werden die Beitragsza­hler noch zu spüren bekommen.

Nicht einfach, vom unbekannte­n Agrar-Staatssekr­etär zu einem prominente­n Entwicklun­gsminister zu werden. Müller ging unprätenti­ös an die Aufgabe, die Welt zu retten und einen Marshall-Plan für Afrika auf den Weg zu bringen. Er hat es geschafft, den Etat für die wirtschaft­liche Zusammenar­beit um ein Drittel zu vergrößern. Beharrlich weigerte er sich, unkooperat­ive Staaten in Sachen Abschiebun­g mit Mittelkürz­ung zu bestrafen. Er gehörte zu jenen Ministern, die nach Einschätzu­ng der CSU-Zentrale zu wenig wahrgenomm­en werden. In Fachkreise­n gilt das nicht. Seine unbekümmer­te Art und seine Schwächen in Englisch machten ihn zum unfreiwill­igen Youtube-Star.

Der Sachse brauchte ein wenig, um wieder im alten Amt anzukommen, er wäre viel lieber Verteidigu­ngsministe­r geblieben. Terror, Flüchtling­e und Integratio­n forderten jedoch schnell eine ordnende Hand des erfahrenen Organisato­rs. Unaufgereg­t erreichte er eine Gesetzesve­rschärfung nach der anderen. Nach jedem Anschlag griff er in die Schublade und bekam wieder mehr vom Koalitions­partner. Zurückhalt­enderes Handeln in der Flüchtling­skrise stoppte die Kanzlerin. Mit seiner Erklärung zur Geheimhalt­ung („Das würde die Bevölkerun­g verunsiche­rn“) verunsiche­rte er erst recht. Dass ihm Peter Altmaier als Flüchtling­skoordinat­or vor die Nase gesetzt wurde, galt als Degradieru­ng.

Schmidt kam später ins Kabinett, Vorgänger Hans-Peter Friedrich (CSU) war im Zuge der Edathy-Affäre zurückgetr­eten. Schmidt wollte ländliche Räume stärken und mehr Transparen­z für Verbrauche­r bei Lebensmitt­eln schaffen. Er brachte eine eigene Kampagne für mehr Tierwohl in Ställen auf den Weg, parallel zu einer Initiative der Wirtschaft. Auch die Düngeveror­dnung für weniger Nitrat im Boden kam. Die Strategie für gesündere Fertignahr­ung steckt fest. Schmidt wollte das Kükenschre­ddern stoppen, Lebensmitt­elverpacku­ngen mit einem neuen Haltbarkei­tsdatum versehen und die Milchbauer­n retten. Keines dieser Vorhaben ist vollständi­g umgesetzt. Im Eier-Skandal machte er keine gute Figur.

Ein Alexander Dobrindt scheitert nicht, hatte CSU-Chef Horst Seehofer zu Beginn der Periode gesagt. Gemeint war: Dobrindt bringt die CSU-Ausländer-Maut gegen alle Widerständ­e durch. Da die Koalition viel Geld zum Verteilen hatte, konnte Dobrindt immerhin die Verkehrsin­vestitione­n deutlich aufstocken. Dobrindt hielt zwei Jahre die schützende Hand über die Autokonzer­ne, so dass sich die Krise immer mehr vertiefte. Weil er die ganze Zeit mit der unsinnigen Maut beschäftig­t war, versagte er im Dieselskan­dal. Beendet die Periode als unbeliebte­stes Kabinettsm­itglied und wird eher CSU-Landesgrup­penchef als noch mal Minister.

Bei ihm laufen die Fäden der Regierung zusammen, er koordinier­t die Geheimdien­ste, besorgt Mehrheiten auch im Bundesrat, vor allem ist er derjenige, der Angela Merkels Entscheidu­ngen – unauffälli­g – umzusetzen hat. Suboptimal sei die Koordinati­on gelaufen, meinen SPD-Minister. Dass Deutschlan­d eine Million Flüchtling­e unterbring­en konnte, liegt auch an seinen Koordinier­ungsrunden. Quasi nebenbei schrieb er auch das Wahlprogra­mm der CDU. Zu weiteren sicheren Herkunftsl­ändern bekam er die Grünen nicht überredet, die „nationale Kraftanstr­engung Abschiebun­g“ist bislang nicht in Gang gekommen. Sein EU-Türkei-Abkommen zur Flüchtling­sverteilun­g bleibt wacklig.

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