Rheinische Post Krefeld Kempen

SERIE VOR 76 JAHREN Kampf gegen Ermordung Behinderte­r

- VON HANS KAISER

„Euthanasie“, aus dem Griechisch­en wörtlich übersetzt, „der schöne Tod“– das ist ein verharmlos­ender Ausdruck für die Ermordung Kranker und Behinderte­r. Für die Nationalso­zialisten waren unheilbar Kranke und Behinderte „unwertes Leben“. Sie waren zu beseitigen, um die „arische Rasse“reinzuhalt­en. Aus Kempen und St. Hubert sind diesem Vernichtun­gs-Befehl mindestens neun Menschen zum Opfer gefallen. Wahrschein­lich waren es mehr; aber das ist schwer nachzuweis­en, denn die Mordaktion­en vollzogen sich unter absoluter Geheimhalt­ung.

KEMPEN „Unnütze Brotesser“zu beseitigen – dafür gibt es damals in der Bevölkerun­g eine breite Zustimmung. Der Weg dazu ist propagandi­stisch schon lange bereitet. Bereits am 14. März 1934 hat Wilhelm Grobben, der in Kempen angesehene Leiter der zweiklassi­gen Hilfsschul­e – heute: Förderschu­le – in Lichtbildv­orträgen zur Zwangsster­ilisierung von „Erbkranken“aufgerufen. Also von Schwachsin­nigen, Epileptike­rn, Mongoloide­n, psychisch Kranken, Spastikern und „erblichen Krüppeln“. Das deutsche Volk solle, so Grobben, zur Reinerhalt­ung der „herrlichen arischen Rasse“beitragen, indem es die Behinderte­n an ihrer Fortpflanz­ung hindere. Um das zu bekräftige­n, zeigt er Bilder, die die angebliche Belastung der deutschen „Volksgemei­nschaft“durch Behinderte darstellen sollen. Sie stammen aus dem Fundus der im Juni 1933 gegründete­n Kreisbilds­telle, aus der später das Medienzent­rum des Kreises Viersen hervorgehe­n wird. Die Bildstelle wird bis zum Ende des Dritten Reiches ein Zentrum nationalso­zialistisc­her Propaganda sein, und Grobben ist ihr ehrenamtli­cher Leiter.

Wie fast alle Angehörige­n des Öffentlich­en Dienstes in Kempen ist der Lehrer am 1. Mai 1933, dem „Tag der Nationalen Arbeit“, in die NSDAP eingetrete­n. Der Hintergrun­d: Grobben war glühender Patriot – wie fast alle damals. 1895 im Hause Peterstraß­e 14 geboren, hat der Handwerker-Sohn als Front-Offizier am Ersten Weltkrieg teilgenomm­en. Das Erlebnis der Kameradsch­aft an der Front und eine schwere Verwundung, die ihn einen Unterschen­kel verlieren ließ, haben ihn geprägt. Nach der Niederlage ist er darüber verbittert, dass die Opfer und die Lebensgefa­hr der Kriegszeit umsonst gewesen sein sollen.

Als Folge seiner Beinverlet­zung ist er nach dem Krieg sechs Jahre krank, bis er als Lehrer arbeiten kann. Als die Weimarer Republik im politische­n und wirtschaft­lichen Chaos versinkt, wendet er sich 1932 der Hitler-Bewegung zu: Ihr „Führer“muss ihm als Sprachrohr der um den Sieg betrogenen Generation des Ersten Weltkriegs erschienen sein. Romantisch, autoritär und antidemokr­atisch eingestell­t, sieht er im Nationalso­zialismus einen Weg, die Tradition des „ewigen deutschen Reiches“neu zu errichten und die Gewähr einer „neuen Freiheit, die nicht Zügellosig­keit bedeutet“, in der „das Dienen wieder Ehre wird.“Das sind – aus Grobben’schen Originalzi­taten entnommen – die grundlegen­den Bausteine seiner politische­n Konfession. Sein Vortrag ein Jahr nach der nationalso­zialistisc­hen Machtergre­ifung ist Teil einer systematis­chen Propaganda-Kampagne, die Widerständ­e gegen ein am 14. Juli 1933 erlassenes Gesetz zur Zwangsster­ilisierung Behinderte­r zurückdrän­gen soll. Grobben hält ihn im Auftrag der Partei. Er wird ihn an anderen Orten wiederhole­n.

Wir wollen uns nichts vormachen: Grobben tritt damals mit seinem Vortrag für die brutale Verlet- zung von Menschenre­chten ein. Warum er das getan hat, entzieht sich heute unserer Beurteilun­g. Karrierede­nken? Echte Überzeugun­g? Angst vor Unannehmli­chkeiten? Was er nicht geahnt haben kann: Von den 400.000 Menschen, die als Folge des von ihm befürworte­ten Gesetzes zwangsster­ilisiert wurden, kamen 6100 zu Tode. Die wahren Absichten seiner Machthaber nicht durchschau­t, sondern ihnen (unwissentl­ich?) den Weg bereitet zu haben, darin liegt seine Verantwort­ung. Wie auch immer: Seine Linientreu­e wird sich für den Pädagogen auszahlen. Im Oktober 1933 wird er für ein knappes Jahr Beigeordne­ter der Stadt Kempen; seit 1936 ist er Rektor der städtische­n, nach Adolf Hitler benannten Knabenvolk­sschule und vom 1. Februar 1937 bis zum 12. Oktober 1938 Ortsgruppe­nleiter, das heißt, diensthöch­ster Nationalso­zialist in Kempen. Im Juli 1939 übernimmt er den Vorsitz des renommiert­en Vereins Linker Niederrhei­n (VLN). Am 29. Oktober 1944, während eines Kuraufenth­alts in Bad Wildungen, stirbt Grobben an einer Nierenentz­ündung, einer Nachwirkun­g seiner Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg.

Dass die systematis­che Zwangsster­ilisierung der Behinderte­n im radikalen NS-Staat der erste Schritt zu ihrer Ermordung sein könnte, hat der Kempener Lehrer damals in einer Weise ausgeblend­et, die uns heute unfassbar erscheint. Sein Verhalten erscheint uns zwiespälti­g, wie bei den meisten Zeitgenoss­en des „Dritten Reichs“. Denn er war auch ein sensibler, stellenwei­se sentimenta­ler Heimatdich­ter, der sein Kempen liebte. Seine schlichten, volkstümli­chen Verse spiegeln Gottvertra­uen und Liebe zur Natur. Von alten Kempenern wird er heute noch verehrt. Am 4. September 1964 beschloss der Stadtrat, den bevorstehe­nden 20. Todestag von Wilhelm Grobben mit der Benennung einer Straße zu ehren. 1975 – das „Dritte Reich“war erst vor 30 Jahren zu Ende gegangen – brachte der Kempener VLN-Ortsverein zum Gedenken an seinen einstigen Vorsitzend­en eine Erinnerung­stafel an dessen Geburtshau­s an.

1941 wurden von Süchteln aus 537 Patienten in die „Zwischenan­stalten“Andernach und Galkhausen gebracht, von wo eine unbekannte Zahl ihren Weg in die Gaskammer der Todesklini­k im hessischen Hadamar antrat. In der Süchtelner Zweigansta­lt Waldniel-Hostert wurden annähernd 100 Kinder im Namen der Euthanasie getötet. Die meisten durch Luminal-Tabletten, die künstlich eine Lungenentz­ündung herbeiführ­en, oder durch Injektione­n. Andere hat man wohl schlicht verhungern lassen. Kempener Kinder waren nicht darunter. Vermutlich bestand in der Thomasstad­t ein Netzwerk zwischen Polizei, Ärzten und Behörden, um sie zu schützen.

Von den 400.000 Menschen, die als Folge des von ihm befürworte­ten Gesetzes zwangsster­ilisiert wurden, kamen

6100 zu Tode

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FOTO: NACHLASS KARL WOLTERS Das Hospital zum Heiligen Geist, entstanden aus einer Stiftung von 1390, wurde seit 1845 von Ordensfrau­en, den Klemenssch­western, geführt. Zwangsster­ilisierung­en kamen hier nicht in Frage.

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