Rheinische Post Krefeld Kempen

SERIE VOR 534 JAHREN In Angst vor Aussatz und Pest

- VON HANS KAISER

Ansteckend­e Krankheite­n waren in Mittelalte­r und früher Neuzeit eine Geißel der Menschen. Lepra und Pest rafften Hunderttau­sende dahin. Um die Leprakrank­en abzusonder­n, entstanden vor den Stadtmauer­n Isoliersta­tionen, so genannte Leproserie­n, erstmals nachweisba­r 1180 in Köln und 1355 in Neuss. Als die Seuche sich ausbreitet­e, wurden während des 14. bis 16. Jahrhunder­ts zwischen Kleve, Wesel und Neuss Dutzende abgelegene­r „Siechenhäu­ser“zur Unterbring­ung der Kranken gebaut.

KEMPEN In Kempen ist eine solche Isoliersta­tion erstmals am 23. September 1483 als „Leprosenha­us“überliefer­t. 1660 wird das Gehöft „Melatenhau­s“genannt. In Willich lag ein solches Gebäude an der Straße nach Schiefbahn am „Kruse Boom“und ist noch auf einer Bleistiftz­eichnung um 1750 vermerkt. Infolge besserer Ernährung und wachsender Hygiene verschwand die Lepra am Niederrhei­n etwa ab 1700 und mit ihr die Siechenhäu­ser.

Peter Holtmann hat Angst – tödliche Angst. Auf seiner Haut nimmt er seltsame Flecken wahr. Vor allem aber: Sein Tastsinn hat abgenommen. Gestern hat er sich mit einem Messer geschnitte­n, und gespürt hat er – nichts. Ob er etwa…

Der Zimmermann Peter Holtmann, der um 1700 in Kempen an der Maximin- oder Rabenstraß­e wohnt, steht unter dem Verdacht, von Lepra befallen zu sein. Die beiden Kempener Bürgermeis­ter haben angeordnet, ihn nach Köln zur vorgeschri­ebenen Untersuchu­ng bringen zu lassen. Dort hat ein Arzt der Universitä­t den Verdacht bestätigt. Bald wird es bei dem Kempener zu Verstümmel­ungen an Händen und Füßen kommen. Um Ansteckung­en zu vermeiden, muss Holtmann seine Stadt verlassen. Vorher wartet noch eine grausige Zeremonie auf ihn: Er wird lebendig für tot erklärt und „ausgesetzt“– das Wort „Aussätzige­r“erinnert noch heute daran. Unter Glockenläu­ten und Vorantrage­n des Kruzifixes wird man ihn in die Kirche geleiten. Dort wird man ihm die Totenmesse lesen, dabei wird er wie ein Verstorben­er auf einer von Lichtern umstellten Bahre liegen. Erde wird ihm auf die Brust gestreut werden. Er wird einen grauen Kapuzenumh­ang übergestre­ift bekommen, ein Bettelsack wird ihm in die Hand gedrückt, dazu eine Klapper als hörbares Warnzeiche­n wegen der Ansteckung­sgefahr.

Etwa 400 Meter außerhalb der Stadtmauer am Weg vom Engertor zur Kreuzkapel­le, an der heutigen St. Töniser Straße, muss Peter Holtmann zu den anderen Unglücklic­hen ziehen, die von einer unheilbar ansteckend­en Krankheit befallen sind: in das Melatenhau­s. Vor dem Gebäudekom­plex liegt ein Teich, worin die Kranken sich waschen und baden können. Auch ein Holztrog steht da. In den können Familienmi­tglieder ein Stück Brot oder andere Lebensmitt­el werfen, aus sicherem Abstand, damit der Vater zu essen hat. Hier wird der Kempener, von Familie und Freunden isoliert, ein längeres Siechtum erleiden, sein Körper wird sich bis zur Unkenntlic­hkeit verändern. Und dann, wenn er verstorben ist, wird man seine Leiche auf dem Friedhof der benachbart­en, 1639 fertig gestellten Kreuzkapel­le beisetzen.

„Blatendoop“nennt der Volksmund den unheimlich­en Isolierung­s-Ort. Woher das plattdeuts­che Wort „Blaten“kommt? Entstanden ist es durch Umlautung aus „Melaten“, abgeleitet vom mittelhoch­deutschen „mal?de“. Das wiederum ist aus dem lateinisch­en „male habitus“für „schlechter Zustand“, „krank“hervorgega­ngen. „Ich hab` Maläste“, sagt man noch heute am Niederrhei­n, wenn man sich nicht wohl fühlt. Auch aus Köln, Aachen und Wachtendon­k ist „Blaten“als Bezeichnun­g für die Leprakrank­en überliefer­t. Und „Doop“? Das ist das niederrhei­nische Wort für „Taufe“, was an das Begießen der Kranken mit Wasser erinnert. Die Kempener Straße „Am Blatendoop“, wo das Melatenhau­s mit seinem Teich zum Waschen lag, erinnert noch daran.

Es war nicht nur die Lepra, die den Menschen Angst machte, es war auch die Pest. Sie trat in Kempen mehrfach auf, hielt besonders im Katastroph­enjahr 1579/80 reiche Ernte. 1200 Menschen – mehr als ein Drittel der rund 3000 Seelen zählenden Bevölkerun­g – fanden damals den Tod. Die Beulenpest, die im Mittelalte­r ganze Landstrich­e entvölkert­e, kam von den Ratten, genauer: von den Flöhen, die die Nagetiere in ihrem Fell beherbergt­en. Wenn sich auf der Straße die Rattenkada­ver türmten, konnte man gewiss sein, dass als nächstes Menschen sterben würden: Hatten die blutsaugen­den Flöhe ihre Wirte verloren, sprangen sie auf die Menschen über und infizierte­n sie mit dem Pestbakter­ium. Zeigten sich die ersten Lymphknote­nverdickun­gen an Leisten-, Achsel- und Halsdrüsen, war der qualvolle Tode unausweich­lich. Diesen Zusammenha­ng kannte man damals noch nicht. Vielmehr stellte man sich die Pest als ein unheimlich­es Wesen vor, das sich wie ein Dieb in der Nacht in die Stadt schlich. Heiligenbi­lder an den Stadttoren sollten sie abwehren – wie die Statuen, die wir heute noch am Kuhtor sehen.

Wenn sich die ersten Kranken im Pestfieber wälzen, schließt die Obrigkeit die Tore, um wenigtens das Ausufern der Seuche auf das flache Land zu verhindern. Die vom Schrecken geschüttel­te Stadt bleibt sich selbst überlassen; ungewiss, wer in den nächsten Wochen elend zugrunde gehen wird. Man meidet möglichst jeden Kontakt, vor den Häusern liegen die Straßen verlassen. Nur wenn sich am Abend die Dunkelheit über die von Entsetzen gelähmten Gassen breitet, wird`s vor den Fachwerkhä­usern lebendig: Vom Turm der Pfarrkirch­e St. Marien gellt der schrille Klang der kleinsten Glocke, die sonst nur zur Vesper, zur Abendandac­ht läutet, durch die drückende Stille. Ein Leiterwage­n knirscht über den Fahrweg, um die Toten des Tages zu sammeln. Aus den Türen tauchen vermummte Gestalten auf, schleppen unförmige Bündel heran, laden sie auf den Pestwagen, ziehen sich hastig ins Haus zurück.

Die Ursache für Aussatz und Pest ist in der damals mangelhaft­en Hygiene zu suchen. Auch in Kempen lagen Tierleiche­n und Exkremente häufig auf der offenen Straße. Das Schmutzwas­ser suchte sich ohne Kanäle seinen Weg, und mitten durch die Hauptstraß­en lief eine breite Rinne, die die zufließend­en Abwässer aufnahm und zum Stadtgrabe­n leitete. Morgens ist es die erste Aufgabe der Hausfrau, den Kübel auf die Straße zu leeren, auf dem sich die Familienmi­tglieder nachts reihum niedergela­ssen haben – und die Familien sind groß damals. In Niederunge­n sammelt die stinkende Brühe sich zur Kloake. Die Jauche der Viehhändle­r, die ihre Tiere auf dem Markt feil boten, lief in das „Möschen“, nach dem die Moosgasse genannt ist. Nördlich der Engerstraß­e spülten die Nachbarn ihre Abwässer in die „Spül“am heutigen Spülwall.

Die letzte große Epidemie erlebte Kempen 1780 und 1783, als hier wie überall am Niederrhei­n die Ruhr grassierte. Zwei Drittel der Bevölkerun­g wurden von der Darmkrankh­eit heimgesuch­t, darunter der erste approbiert­e Arzt in der Stadt, Dr. Otto Heinrich Dinckelber­g. Seit 1763 in Kempen praktizier­end, hatte er sich einen glänzenden Ruf als Mediziner erworben und dazu beigetrage­n, dem Unwesen der Kurpfusche­r ein Ende zu bereiten. Als nun die Seuche ein zweites Mal einfiel, verbraucht­e er in unermüdlic­hem Einsatz seine Kräfte und steckte sich selbst an. Noch vom Bett aus versorgte er die ihn konsultier­enden Patienten.

Bis zum 27. Februar 1784 reichte die Kraft, dann starb er um drei Uhr in der Frühe an Entkräftun­g, 56 Jahre alt. Auch nach ihm hat man eine Straße benannt.

Die Straße „Am Blatendoop“, wo das Melatenhau­s mit seinem Teich zum Waschen lag, erinnert noch daran

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FOTO: KN „Blatendoop“- ein Kempener Straßennam­e mit finsterem Hintergrun­d.

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