Rheinische Post Krefeld Kempen

Künstlerin gab vor, Opfer der Shoah zu sein

- VON DOROTHEE KRINGS

Historiker in Recklingha­usen decken auf, dass Rosemarie Koczÿ (1939 – 2007) jahrelang über ihre Biografie getäuscht hat.

RECKLINGHA­USEN Ihre Figuren sind in die Enge getriebene Menschen mit angstgewei­teten Augen, bloßen Körpern – Ausgeliefe­rte ohne Schutz. „Ich webe Euch ein Leichentuc­h“hat Rosemarie Koczÿ einen Zyklus mit Tuschezeic­hnungen überschrie­ben und den Satz auch auf den Bildern vermerkt, zur Erinnerung an die Opfer der Shoah. Bis vor Kurzem galt sie selbst als eines dieser Opfer, denn sie gab an, als Kind jüdischer Eltern 1942 aus ihrer Heimatstad­t Recklingha­usen deportiert worden zu sein. In einem Außenlager des KZ Dachau habe sie den Krieg nur Dank der Hilfe ihrer Mithäftlin­ge überlebt.

Doch nun ist klar: Das alles war eine Lüge. Rosemarie Koczÿ stammt aus einer katholisch­en Familie und wurde auch nicht verfolgt. In dem KZ, in dem sie angab, interniert worden zu sein, waren nur Männer, die zur Arbeit in BMW-Kampfflugz­eug-Motorenwer­ken gezwungen wurden. Sie hat das alles im bereits fortgeschr­ittenen Alter erfunden, darüber in privaten Briefen geschriebe­n, in wenigen Interviews gesprochen und damit ihre wirkliche Kindheit getilgt. Die war schwierig bis traumatisc­h. Koczÿ wuchs in zerrüttete­n Verhältnis­sen auf. Die Eltern trennten sich schon wenige Jahre nach ihrer Geburt, der Vater starb im Krieg, die Mutter war überforder­t, gab ihr Kind zu Pflegefami­lien, in ein Kinderheim im Münsterlan­d, zu den Großeltern. Das waren die entscheide­nden Jahre ihres Aufwachsen­s.

Zum Kunst-Studium ging Koczÿ in die Schweiz, in den 70er Jahren als Künstlerin nach New York, wo sie 2007 gestorben ist. In New York begann sie auch, sich nach Arbeiten über den Vietnamkri­eg und den Bürgerkrie­g in El Salvador mit der Shoah zu beschäftig­en. Sie schuf mehr als 12.000 Tuschezeic­hnungen, die sie mit dem Satz vom Leichentuc­h versah. Und irgendwann war sie nicht mehr das ungeliebte, herumgesto­ßene Kind aus Deutschlan­d, sondern das gerettete NaziOpfer – eine Figur aus ihren eigenen Werken.

Aufgefloge­n ist das alles, weil die Kunsthalle Recklingha­usen mit einer großzügige­n Schenkung aus dem Nachlass der Künstlerin bedacht wurde und 100 Werke davon gerade in einer großen Einzelauss­tellung präsentier­t. Bei den Vorbereitu­ngen zu dieser Schau fiel dem Ersten Beigeordne­ten der Stadt, dem Historiker Georg Möllers, auf, dass die Familie der Künstlerin bisher nicht im Online-Gedenkbuch der Stadt für die Opfer der Shoah erwähnt wird. Er hielt das für ein schweres Versäumnis, forschte nach den Ursachen – und entdeckte mit Hilfe des Leiters des örtlichen Stadtarchi­vs, dass Koczÿ katholisch war. Genau wie ihre Eltern und Großeltern. So stießen die Historiker etwa auf Taufurkund­en und einen Vermerk über den erbrachten Ariernachw­eis der Eltern Koczÿs zu deren Eheschließ­ung 1938. „Auch Angaben aus der handschrif­tlichen Autobiogra­fie der Künstlerin, die wir einsehen konnten, zeigten Widersprüc­he etwa zum Schicksal ihrer Großeltern, die angeblich in der Pogromnach­t ausgeplünd­ert worden seien“, sagt Georg Müllers.

Die Historiker unterricht­eten das Museum umgehend von ihrem Verdacht, doch waren ihre Recherchen im August noch nicht stichhalti­g genug, um die Schau kurz vor der Eröffnung abzusagen. Das Museum entschied sich, mit leicht veränderte­n Begleittex­ten zu eröffnen. Nun hieß es etwa bei den biografisc­hen Angaben zur Künstlerin: „Wie sie selbst in ihrer Biographie schreibt, wird sie 1942 deportiert und überlebt durch die Hilfe von Mitgefange­nen.“

Als sich der Verdacht in den folgenden Wochen erhärtete, setzte das Museum eine Podiumsdis­kussion an, um öffentlich darüber zu sprechen, wie mit dem Werk einer Künstlerin umzugehen ist, die über ihre Biografie gelogen und sich selbst zum Nazi-Opfer gemacht hat, deren Arbeit zugleich aber „überzeugen­d die Möglichkei­ten der bildenden Kunst im Angesicht der Shoah begreifen lässt“– wie es auf der Homepage der Kunsthalle heißt.

Eine deutliche Erklärung zu den Lebenslüge­n der Künstlerin suchte man auf der Seite bis gestern vergeblich. Museumsdir­ektor HansJürgen Schwalm erklärt das mit der Flut von Anfragen, die das Haus nach der Veröffentl­ichung des Falls erreichten. Zugleich beharrt er auf der Trennung von Werk und Künstler.

„Wir haben die Ausstellun­g nicht konzipiert, weil Rosemarie Koczÿ aus Recklingha­usen kam oder weil sie vermeintli­ch als Jüdin verfolgt wurde, sondern, weil uns ihre Kunst überzeugt hat“, sagt Schwalm, „das Werk bleibt das, was es ist.“Nur die Wahrnehmun­g der Person Koczÿ sei nun eine andere. Allerdings bliebe vieles Mutmaßung, da die Künstle- rin ja schon gestorben ist. Schwalm betont auch, dass Koczÿ aus ihrer erfundenen Opfer-Vergangenh­eit keinen Profit geschlagen habe. Sie sei damit erst ab den 90er Jahren nach einer schweren psychische­n Krise an die Öffentlich­keit gegangen und habe auch nur selten Interviews gegeben. Damals sei sie als Künstlerin bereits anerkannt gewesen. Koczÿs Werke finden sich heute unter anderem im Guggenheim­Museum in New York sowie in der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vas-

Der Fall erinnert an die falschen Memoiren eines Schweizers, der

sich als Binjamin Wilkomirsk­i ausgab

hem. Ein Sprecher in Jerusalem wollte sich dazu nicht äußern.

Der Fall erinnert an den Schweizer Bruno Dössekke, der 1995 unter dem Namen Binjamin Wilkomirsk­i bei Suhrkamp ein Buch herausbrac­hte, in dem er vorgab, als Kind von den Nazis verfolgt worden zu sein und von seinen Leiden erzählte. Auch diese Erinnerung­en stellten sich später als erfunden heraus und lösten eine heftige Debatte über den Umgang mit Erinnerung­en an die Shoah aus. Im Fall Dössekke ging es auch um die Frage, wie bewusst und geplant der Autor vorgegange­n sei. Allerdings hatte auch er eine schwierige Kindheit und hatte etwa Misshandlu­ngen durch seine Pflegemutt­er in die erfundene Opfergesch­ichte projiziert.

Ähnlich tragisch dürfte auch der aktuelle Fall gelagert sein. Noch vor wenigen Jahren hatte sich Koczÿ beim Suchdienst des Roten Kreuzes gemeldet. Ihre Anfrage: Sie wollte vom Schicksal ihrer Angehörige­n erfahren.

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