Rheinische Post Krefeld Kempen

UND DIE WELT

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Armut entwürdigt Menschen Wer das heutige Fest Sankt Martin ernst nimmt, wird auch über Armut und Menschenwü­rde in unserer Gesellscha­ft nachdenken müssen.

Grunde so viel Licht in die Straßen bringen, dass auch jene sichtbar werden, die sonst kaum zu sehen sind. Davon erzählt auch die Geschichte des heiligen Martin, der noch als Soldat an einem frostigen Winteraben­d am Stadttor – also am Rande der Gesellscha­ft – auf einen fast nackten und halb erfrorenen Bettler trifft. Martin nimmt kurz entschloss­en seinen Militärman­tel und teilt diesen mit seinem Schwert in zwei Teile. Die eine Hälfte tritt er dem Bettler ab. Der Arme kann sich also wärmen und bedecken, er bekommt etwas von seiner Menschenwü­rde zurück.

Die Tat ist eigentlich selbstvers­tändlich, nicht nur für einen Christen. Sie ist überdies die Grundlage unseres Zusammenle­bens. „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“, heißt es gleich im ersten Artikel unseres Grundgeset­zes.

Vor allem die Zuwendung ist es, die aus einem scheinbare­n Objekt der Verhältnis­se wieder einen Menschen macht; einen, der nicht bei Nacht vor dem Stadttor kauern muss, sondern Teil der Gesellscha­ft bleibt. Das ist der Kern des St.-Martin-Festes: mit der Legende als Erinnerung und seiner Aufforderu­ng des Teilens. Wer nicht zynisch ist und nur an diesem Tag für singende Kinder Süßigkeite­n verteilt, sondern ernst nimmt, was überliefer­t wurde, wird die Hilfe für Arme nicht ausschließ­lich als Akt der Barmherzig­keit begreifen. Karitative Unterstütz­ung hilft den Bedürftige­n in ihrer Not; sie wird aber niemals eine Armut beseitigen, die offenkundi­g Teil unserer Gesellscha­ft und Ausdruck einer ungerechte­n Ordnung ist. Das Fest von St. Martin ist darum viel radikaler und revolution­ärer, als viele es sich im Lichtermee­r der Fackeln träumen lassen. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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