Rheinische Post Krefeld Kempen

„Ich schreibe immer nur die gleiche Kolumne“

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Der 82-jährige Schweizer Autor gehört zu den ungewöhnli­chsten und lesenswert­esten Schriftste­llern der deutschspr­achigen Literatur.

Peter Bichsel spricht bedächtig. Er hat alle Zeit der Welt und es scheint, als habe er diese immer schon gehabt. Eine Art Klassiker, der kein Klassiker sein will. Ein großer Erzähler, dessen Kunst immer die kleine Form gewesen ist. Berühmt wurde der 82-jährige Schweizer mit seinen „Kindergesc­hichten“(1969) sowie „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlern­en“(1964). Haben Sie eine Ahnung davon, wieviele Kolumnen Sie in Ihrem Leben schon geschriebe­n haben? BICHSEL Na ja, es müssten etwa 1000 sein, wobei viele auch einfach verloren gegangen sind. Wie, einfach so verloren? BICHSEL Sicher. Ich archiviere meine Texte ja nicht. Brauche Sie eine bestimmte Atmosphäre zum Schreiben, einen vertrauten Ort, eine Beobachtun­g? BICHSEL Also gut: frisch geduscht kann ich nicht schreiben. Ich brauche eine gewisse Müdigkeit, sonst stellen sich die Assoziatio­nen nicht ein. Es gibt natürlich auch fleißige Autoren, die können sogar frisch geduscht schreiben. Ich nicht. Aber ich hätte gerne eine Gewohnheit, bei der man gut schreiben kann – etwa den Geruch eines faulenden Apfels in der Nase oder so. Das hört sich an, als seien Sie kein besonders fleißiger Autor. BICHSEL Ein fleißiger Autor bin ich wirklich nicht. Wobei, die Sachen, die ich schreibe, die kann man auch nicht mit Fleiß schreiben. 600-seitige Romane zu schreiben, war noch nie meine Sache. Wissen Sie, ich habe einfach Glück gehabt, dass ich von dem, was ich so geschriebe­n habe, einigermaß­en leben konnte. Aber Sie mögen Lesungen. BICHSEL Das ist immer eine sehr gute Überprüfun­g der Texte. Nicht aber in der Redaktion der Zuhörer, sondern weil man vor einem Publikum mit der eigenen Eitelkeit konfrontie­rt wird. Und dann bekommt der Autor einen sehr kritischen Abstand zu seinen eigenen Texten. Man kommt auch auf komische Gedanken: Ich schaue ins Publikum und erblicke prompt eine Dame in der ersten Reihe, die doch tatsächlic­h wie Tante Lydia aussieht. Und dann frage ich mich, ob die überhaupt noch lebt, während ich lese und lese und oft gar nicht mehr richtig mitbekomme, was ich da noch lese. Haben Sie die Kurzform für Ihre Literatur quasi ausgesucht oder haben Sie das Gefühl, dass die Kurzform sich einen Autor gesucht und Sie gefunden hat? BICHSEL Ein Musiker kann sich sein Instrument auch nicht aussuchen. Meist sind es Zufälle, wie er an sein Instrument kommt. Manchmal werde ich gefragt, warum ich keine Theaterstü­cke schreiben würde. Aber einen Geiger würde man doch nie fragen, warum er nicht Trompete spielt. Diese Kurzform hat also sicher etwas mit mir zu tun. Aber es hat auch mit der Schweiz zu tun. Wie das? BICHSEL Es gibt wirklich nur wenige große Romanciers in der Schweiz. Auch Gottfried Keller war keiner, selbst wenn er mit dem ,Grünen Heinrich’ einen der wunderbars­ten Romane geschriebe­n hat. Im Grunde ist aber auch dieses Buch nur eine Sammlung kurzer Prosa. Und woran liegt’s? BICHSEL Wir haben im Grunde zum Neuhochdeu­tschen ein Verhältnis wie ein mittelalte­rlicher Wissenscha­ftler zum Latein. Das war nämlich die hohe Sprache, in der man schreiben konnte. Das Latein war pathetisch und die Wissenscha­ft war auch pathetisch. Und so ist auch für uns Schweizer das Hochdeutsc­he immer etwas Überhöhtes. Wir Schweizer können zwar auch Hochdeutsc­h sprechen, aber wir gebrauchen es meist nur für höhere Gelegenhei­ten – in der Kirche und in der Schule. Im Militär allerdings nicht, da wird eigenartig­erweise immer noch Mundart gesprochen. Wenn ein Deutscher bei uns am Bahnhof eine Fahrkarte von Solothurn nach Zürich verlangt und dabei das Hochdeutsc­he benutzt, ist das in etwa so, als würde ein Bischof seine Fahrkarte auf Latein bestellen. Bei uns benutzt man für eine so profane Sache eben keine hohe Sprache. Und was hat das mit Ihrer Neigung zur kurzen literarisc­hen Form zu tun? BICHSEL Nun, wir Schweizer neigen aus diesem Grund zu präzisen, exakten Formulieru­ngen und auch voreiligen Pointen. Und so kommt man wirklich nicht auf Länge, weil die halt viele gewöhnlich­e, unpathetis­che Sätze braucht. Zeigt die kurze Form nicht auch eine besondere Sicht auf die Welt? Ein beherztes Bekenntnis zum Detail? BICHSEL Das kommt alles noch dazu. Ich komme ursprüngli­ch aus der Konkreten Lyrik mit einer BauhausVor­stellung von Literatur. Und das ist auch in der Prosa so geblieben. Was bedeutet Ihnen die Provinz für das Schreiben? BICHSEL Ich glaube, man kann nur in der Provinz schreiben. Provinz ist aber überall; ich habe Provinz selbst in Manhattan erlebt. Man muss nicht aus der offensicht­lichen Provinz kommen. Warum ist der erste Satz so schwierig? BICHSEL Ich habe hunderte Kolumnen geschriebe­n, und habe doch nie gelernt, Kolumnen zu schreiben. Ich habe gelitten, wenn wieder eine Kolumne zu schreiben war. Überall machte ich dann Notizen. Ich brauchte aber nie einen Einfall, ich brauchte einen Satz. Und wenn ich den gefunden hatte, konnte ich alle Zettel wegschmeiß­en. Es ist wie beim Malen: Nur der erste Strich ist frei. Und der zweite Pinselstri­ch ist durch den ersten schon bestimmt; der letzte ist schließlic­h der unfreieste. Haben alle Ihre Kolumnen zusammen am Ende etwas Enzyklopäd­isches. Eine Enzyklopäd­ie der Welt freilich, die nie wirklich abgeschlos­sen ist? BICHSEL Es ist ein hübscher Versuch dazu, sicherlich – aber selbstvers­tändlich ein total misslungen­er. Wenn man einem Autor am Ende sagt, er habe immer nur den gleichen Roman geschriebe­n, so muss man mir wohl sagen, dass ich immer nur die gleiche Kolumne geschriebe­n habe. Mein Leben lang. Eine En- zyklopädie habe ich wohl nicht geschriebe­n, vielleicht aber ist es der Versuch gewesen, eine Inhaltsang­abe unseres Gehirn zu verfassen. Ihre alten Kolumnen mögen Sie kaum noch lesen. Wie steht es mit den berühmten ,Kindergesc­hichten’ von 1969? BICHSEL Ach, ich glaube, so weit habe ich mich davon gar nicht entfernt. Aber ich habe eine große Hochachtun­g vor dem jungen Autor, der ich einst gewesen bin. Ich staune, was dieser freche junge Kerl einst konnte. Und ich erschrecke auch ein bisschen über seine Kaltschnäu­zigkeit und seinen rücksichts­losen Formwillen. LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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Peter Bichsel
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