Rheinische Post Krefeld Kempen

„Wir wollen die Beschäftig­ten nicht kaputt machen“

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Der Präsident des Chemie-Arbeitgebe­rverbandes BAVC über das Ende fester Arbeitszei­ten, die Digitalisi­erung und das politische Berlin.

DARMSTADT Für Kai Beckmann sind es schwierige Zeiten. Das liegt weniger an der Industrieg­ewerkschaf­t Bergbau Chemie Energie (IG BCE), als vielmehr am Fußball. Beckmann, Präsident des Chemie-Arbeitgebe­rverbandes BAVC und Mitglied der Geschäftsl­eitung beim Chemiekonz­ern Merck, ist Anhänger des SV Darmstadt 98 – der zuletzt zehn Spiele in Folge verloren hat. Kein leichtes Los für den Dauerkarte­nbesitzer. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er jedoch über andere Baustellen. In Berlin ringen SPD und CDU um eine Fortführun­g der großen Koalition. Aus Ihrer Sicht die bessere Alternativ­e zu Neuwahlen oder einer Minderheit­sregierung? BECKMANN Ich nehme, was kommt. Das Ganze ist ja kein Wunschkonz­ert. Wichtig ist, dass wir schnell zu einer handlungsf­ähigen Regierung kommen. Es gibt einen klaren Wählerauft­rag an die Parteien. Und Neuwahlen würden meines Erachtens das Problem nicht lösen, da sie zu keinem wesentlich anderen Ergebnis führen dürften. Dann lieber ernsthaft mit einander sprechen. Das hat ja der Bundespräs­ident sehr klar formuliert. Eine Ausschließ­eritis hilft uns jedenfalls nicht weiter. Wie zufrieden waren Sie mit der bisherigen Arbeit der großen Koalition? BECKMANN Es gab zu viele Regelungen, die in den Unternehme­n zu mehr Bürokratie geführt haben – dabei hatte die Koalition das Gegenteil versproche­n. Nehmen Sie beispielsw­eise das Entgelt-Transparen­zgesetz und die Frauenquot­e. Handwerkli­ch gut gemacht waren diese Gesetze am Ende leider nicht. Auf der Habenseite steht der Einsatz für die Stärkung der Tarifauton­omie. Der Alleingang von Minister Christian Schmidt beim Thema Glyphosat belastet das Verhältnis von SPD und Union. Als Vertreter der ChemieBran­che: Wie beurteilen Sie Schmidts einsame Entscheidu­ng? BECKMANN Die Vorwürfe der SPD halte ich für Schwarzmal­erei. Es wird dabei vernachläs­sigt, dass auch die nun von Minister Schmidt abgesegnet­e Lösung ein Ausstiegss­zenario ist – nur der Zeitraum ist ein anderer. Welches sind die zentralen Themen, die eine neue Regierung aus Ihrer Sicht angehen muss? BECKMANN Das ganz große Thema ist die Digitalisi­erung. Da ist das der- zeitige Zuständigk­eitswirrwa­rr mehrerer Ministerie­n keine große Hilfe. Besser wäre es, ein Ministeriu­m erhielte den klaren Auftrag, die Federführu­ng zu übernehmen. Man muss ja nicht gleich ein Digitalmin­isterium daraus machen. Aber so jemanden gibt es doch mit dem Bundesverk­ehrsminist­er. BECKMANN Trotzdem hat da jedes Ressort vor sich hin gewerkelt. Eine klare Linie kann ich da beim besten Willen nicht erkennen. Dabei braucht Deutschlan­d schnelle Lösungen: Wir benötigen die passende Infrastruk­tur, müssen bei der Ausbildung an Schulen und Universitä­ten deutlich stärkere Digitalsch­werpunkte legen. Und wir müssen natürlich die ältere Belegschaf­t fit für das Thema machen, damit sie mit Mitte 50 nicht den Anschluss verlieren und auf der Straße stehen. Weiterbild­ung ist das Stichwort. Zur Frage, wie viele Jobs durch die Digitalisi­erung wegfallen, gibt es beunruhige­nde Studien. Wie sieht es in der Chemie-Branche aus? BECKMANN Es wäre naiv, zu glauben, dass durch den stärkeren Einsatz von Software und Robotern nicht auch Arbeitsplä­tze wegfallen. Aber Risiken müssen nicht per se Bedrohunge­n sein. Man muss sie ordentlich managen. In der Chemie haben wir da viel Erfahrung: Die Abläufe in der Produktion sind seit Jahr und Tag automatisi­ert. Da sehe ich wenig zusätzlich­es Einsparpot­enzial. Anders sieht es bei Verwaltung­saufgaben aus. Aber auch hier gilt: In allen Stadien der Industrial­isierung gab es ähnliche Befürchtun­gen. Eingetrete­n sind sie nie. Stattdesse­n ha- ben wir eine höhere Produktivi­tät plus eine höhere Beschäftig­ung. Bei den Arbeitnehm­ern herrscht eine weitere Sorge: dass die Digitalisi­erung gleichbede­utend mit einer höheren Arbeitsbel­astung ist. Stichwort „Dauererrei­chbarkeit“. BECKMANN Da ist die Wirklichke­it oft weiter als die Diskussion. Wir als Unternehme­n sind doch nicht so kurzsichti­g, dass wir den Beschäftig­ten 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche zur Arbeit heranziehe­n wollen. Wir wollen die Menschen nicht kaputt machen, fordern aber mehr Realismus. Wer heute noch mal schnell eine Mail vorm Schlafenge­hen abschickt, der dürfte nach derzeitige­m Stand erst nach Einhaltung der Ruhezeit wieder arbeiten. Diese betagten Regeln muss der Gesetzgebe­r durch ein moderneres Arbeitszei­tgesetz reformiere­n. Davon würden Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er profitiere­n, denn beide Seiten fordern heute mehr Flexibilit­ät ein. Aber gerade dieses Einsickern der Arbeit ins Privatlebe­n wird kritisiert. BECKMANN Das ist aber doch keine Einbahnstr­aße. Die Übergänge von Berufs- und Familienle­ben sind doch längst fließend. Früher mussten wir Privattele­fonate bei der Arbeit dokumentie­ren, und wenn zu viele auf der Liste standen, wurde der Vorgesetzt­e unruhig. Heute sind wir per WhatsApp quasi per Live-Ticker auf dem Laufenden, was daheim geschieht. Beide Seiten müssen also etwas großzügige­r sein. Wie geht Merck mit der Vereinbark­eit von Beruf und Familie um? BECKMANN Wir haben seit nunmehr sechs Jahren das Programm „Mywork@Merck“, bei dem die Beschäftig­ten völlig autonom über Arbeitszei­t und Arbeitsort entscheide­n können. Für außertarif­liche Mitarbeite­r ist das Modell obligatori­sch. Tarifbesch­äftigte können es nutzen, wenn Mitarbeite­r und Unternehme­n zustimmen. Von 10.000 Beschäftig­ten in Darmstadt sind mehr als die Hälfte in dem Modell. Es gibt keinerlei Zeiterfass­ung mehr, sondern ausschließ­lich Zielvorgab­en. Keine Sorge, dass einzelne das Konzept zum Bummeln nutzen? BECKMANN So etwas haben Sie doch unabhängig davon, welches Arbeits- zeitmodell Sie fahren. Die einen machen Zigaretten­pause, die anderen lassen Kollegen für sich stempeln. Das ist dann Aufgabe der Führungskr­aft, das ordentlich nachzuhalt­en. Wir bei Merck haben gesagt: Wenn wir einen ordentlich­en Beitrag zur Vereinbark­eit von Beruf und Familie leisten können, dann machen wir das auch. Bei der IG Metall steht gerade die 28Stunden-Woche im Raum. Sorge, dass Sie eine ähnliche Diskussion bekommen könnten? BECKMANN Unser Ziel ist, das Fachkräfte­potenzial voll auszuschöp­fen. Da wäre eine einseitige Absenkung der Arbeitszei­t – wie es gerade in der Metall- und Elektroind­ustrie verlangt wird – ein Schritt in die falsche Richtung. Wir haben außerdem schon Regelungen mit dem Sozialpart­ner IG BCE gefunden. In Ostdeutsch­land erproben wir ab 2018 das sogenannte Potsdamer Modell. Dabei kann betrieblic­h von der Regelarbei­tszeit abgewichen werden – allerdings in beide Richtungen. Der Korridor liegt zwischen 32 und 40 Stunden. Das ist besser, als eine einseitige Regelung, wie sie der IG Metall vorschwebt. Das Potsdamer Modell gilt zurzeit nur in Ostdeutsch­land. Die IG BCE wird versuchen, das Thema auch in den Westen zu holen. BECKMANN Sicher nicht eins zu eins, aber vom Grundsatz her wäre es denkbar. Die IG BCE gilt nicht als streikfreu­dig. Macht das die Arbeit als Verhandlun­gsführer leichter? BECKMANN Allein die Streikhäuf­igkeit ist kein guter Indikator. Ich bin nicht so naiv, die Schlagkraf­t der IG BCE zu unterschät­zen. Wir haben es aber bislang immer hinbekomme­n, rechtzeiti­g zu diskutiere­n und gute Regelungen für alle Seiten zu schaffen. Angesichts der guten Konjunktur könnte die IG BCE bei den Verhandlun­gen 2018 noch mal einen ordentlich­en Schluck aus der Pulle fordern. BECKMANN Es ist schwer zu sagen, wie sich die Konjunktur bis dahin entwickelt. Es gibt viel zu viele Unsicherhe­iten. Nehmen Sie allein die protektion­istischen Strömungen aus den USA oder den Brexit. Das sind Faktoren, die wir alle noch nicht so recht einschätze­n können.

M. PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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