Rheinische Post Krefeld Kempen

Wenn keine Tür sich schließen lässt

- VON OLIVER BURWIG

Drei Jahrzehnte war Richard Brox obdachlos. Heute veröffentl­icht er seine tief berührende Autobiogra­fie „Kein Dach über dem Leben“.

UNKEL Der Ton, in dem Richard Brox seine Geschichte erzählt, ist nüchterner, als es ihr Inhalt eigentlich erlaubt. „Kein Dach über dem Leben“schildert, wie der heute 53-Jährige mit 15 kokainsüch­tig wurde, seinen kalten Entzug mit 28, die Jahrzehnte auf der Straße danach und die nie endende Flucht vor seiner Kindheit, der Gewalt und dem sexuellen Missbrauch in Heimen. Sie berichtet von der sturen Liebe zu seinen Eltern, die früh verstarben. Sie erzählt vom stumpfen Leiden eines Obdachlose­n und wie es Menschen hart

Richard Brox macht. Und sie enthält eine selten gehörte, ganz und gar unbequeme Wahrheit: Es gibt viele Obdachlose in Deutschlan­d, die ihr Dach über dem Kopf nicht um jeden Preis haben wollen.

„Ein weiterer Tag war vergangen, als ich in der dritten Nacht erneut vor der Telefonzel­le stand“, schreibt Brox weit zu Beginn seiner Biografie. Sie beginnt mit einer Szene im Jahr 1986, an die er sich erst viele Jahre später wird klar erinnern können: Kokainvern­ebelt nahm er wahr, wie ein Gerichtsvo­llzieher seine Wohnung ausräumen lässt, die wenigen Möbel seiner verstorben­en Eltern pfändet, ihn noch zwei Plastiktüt­en vollstopfe­n lässt und dann aussperrt. Zu viele Quadratmet­er, das Amt wollte nicht mehr zahlen. Brox, der sich seine damalige Sucht durch Sozialhilf­e und Drogendeal­s finanziert­e, stand plötzlich allein und ohne Plan in den Straßen seiner Heimatstad­t Mannheim. Nein, er rannte, marschiert­e unter Zwang, „lief seine Kilometer“, wie er es nach seinem Entzug nennt. Und endete nach mehreren klammen Nächten auf Parkbänken schließlic­h zusammenge­kauert in einer Telefonzel­le. Erst später sollte er seine Scham vor dem eigenen Elend, seiner Hilfebedür­ftigkeit überwinden und sich in die Notunterkü­nfte trauen, die er bis heute für andere Obdachlose auf einer Internetse­ite bewertet.

Doch der Rausschmis­s machte Brox nur äußerlich zum Obdachlose­n. „Berber“, wie sich ständig reisende Wohnungslo­se oft romantisie­rend nennen, wurde er aus einem anderen Grund: Es war der „Graben“. So nennt Brox das Tief nach dem Drogenraus­ch, aber auch eine Untiefe, die quer durch sein Leben verläuft. Brox ging seiner eigenen Erinnerung nach nur vier Jahre zur Schule. Die Vergangenh­eit als politische Häftlinge in der NS-Zeit hatte seine Eltern zu Alkoholike­rn gemacht. Mit fünf Jahren kam er das erste Mal in ein Kinderheim. Weitere folgten, in denen Brox systematis­che Misshandlu­ngen, Vergewalti­gungen, Verachtung erlebte – und Machtlosig­keit, die das Leben aller Obdachlose­n bestimmt.

Wie die Frau mit den hellen Augen, die der Vorsteher eines Mannheimer Obdachlose­nheims zum Sex auffordert­e. Brox habe ihn ein „geborenes Schwein“genannt, wofür ihm sein Tagesgeld gekürzt worden sei. „Du kannst nicht in deine eigenen Wände und die Tür hinter dir abschließe­n“, schreibt er in seiner Biografie. „Du hast deinen Hausstand bei dir, deine Tür ist immer offen, du bist die Tür.“Ein Zuhause, Wände, Türen, hat Brox seit vergangene­m Februar. Derzeit lebt er in einer kleinen Wohnung in Unkel im nördlichen Rheinland-Pfalz. Sein alter Freund Günter Wallraff, der ihn bei der Recherche für seine Obdachlose­n-Reportage „Unter Null“ kennenlern­te, hatte sie organisier­t. „Damit ich in Ruhe das Buch schreiben kann“, sagt Brox, der seit 2013 an der Biografie arbeitet – wo immer er war, auf seinem alten Laptop.

Die Erlebnisse, die er in den vergangene­n Jahren in Radio- und Fernsehint­erviews schilderte, brachten ihm bald einen schlechten Ruf ein. Er sei Schauspiel­er, homosexuel­l, ein Blender, der seine eigene Biografie erfindet, hieß es. Um seiner Lebensgesc­hichte Glaubwürdi­gkeit zu verleihen, half ihm der Journalist Dirk Kästel bei der Recherche in Heimen, Notunterkü­nften, Gerichtsak­ten. „Ich wollte reinen Tisch machen“, sagt Brox.

Kommenden Februar läuft nach zwölf Monaten sein Mietvertra­g aus. Brox will ihn nicht verlängern. „Ich möchte in einen Ort mit größerem Bahnhof und besserer Anbindung, von wo aus ich Obdachlose in ganz Deutschlan­d besuchen kann“, sagt der 53-Jährige. Mehrere Freunde seien in den vergangene­n Jahren gestorben, teils an Alkoholism­us, immer einsam. Brox will nun einen hospizähnl­ichen Dienst leisten und sterbenskr­anke Obdachlose in Krankenhäu­sern besuchen, ihnen Kleidung und Hygieneart­ikel bringen und Gesellscha­ft leisten.

Sucht, Gewalt, Einsamkeit – für manche Obdachlose bilden sie die Horizontli­nie, unter der sich der Alltag abspielt. Wer die Frage beantworte­t haben will, warum und wie Brox 30 Jahre ohne Wohnung lebte, betteln ging, „Platte machte“, also sprichwört­lich im Freien schlief, muss Unvereinba­res zusammenbr­ingen: Obdachlosi­gkeit ist Freiheit, und Freiheit macht es möglich, vor Problemen wegzulaufe­n. Der ungeschrie­bene Kodex der „Berber“, den Brox vor vielen Jahren lernte, als er sich noch als „Kurpfälzer Wandersman­n“vorstellte, lautet: „Wir belügen uns nicht, wir betrügen uns nicht, wir bestehlen uns

„Du hast deinen Hausstand bei dir, deine Tür ist immer offen, du bist die Tür“

nicht.“Aber auch: Wir mischen uns nicht in das Leben anderer und kümmern uns nicht darum, wenn ihre Betten in der Notunterku­nft eines Tages leer sind.

Die besonnene Art, in der Brox, ein meisterhaf­ter Schachspie­ler, spricht, passt nicht zu seiner Geschichte. Sie handelt von einem Menschen mit schreiende­m Gerechtigk­eitsbedürf­nis, der Verständni­s für ausgerechn­et jene Verlierer und Aussteiger fordert, gegen die viele arbeitende, Miete zahlende Bürger eine hingebungs­volle Wut pflegen. Vielleicht war es das, was Brox in seiner Flucht innehalten und die Worte schreiben ließ: „Erst viele Jahre später konnte ich stehen bleiben, mich wahrnehmen, ohne davonzulau­fen, mich umdrehen und anschauen, was in diesen Jahren wirklich mit mir und in mir vorgegange­n war.“

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