Rheinische Post Krefeld Kempen

Paris, du kannst so grausam sein

- VON PHILIPP HOLSTEIN

In dem Drama „Meine schöne innere Sonne“irrt Juliette Binoche durch eine lieblose Welt.

In den ersten Minuten dieses sehr eigensinni­gen Films erlebt man eine der quälendste­n Sexszenen der europäisch­en Filmgeschi­chte, und danach wird es auch nicht fröhlicher. Der Mann, dessen Körperlich­keit die Malerin Isabelle hier weniger genießt denn bewältigt, ist Bankier und wird später mit ihr in einer Bar stehen. Er demütigt im Vorübergeh­en den Kellner, er hat sichtlich Spaß daran, und als Isabelle ihn fragt, was ihn am Leben eigentlich interessie­re, antwortet er: „die schönen Dinge“. Dabei schiebt er seine Hand unter ihren Pullover.

„Meine schöne innere Sonne“heißt die neue Produktion der 71 Jahre alten französisc­hen Regisseuri­n Claire Denis, die so tolle Filme wie „Ich kann nicht schlafen“und „35 Rum“gedreht hat. Sie wollte sich ursprüngli­ch an einem Omnibus-Film beteiligen, für den mehrere Kollegen die „Fragmente einer Sprache der Liebe“von Roland Barthes adaptieren sollten. Denis und ihre Drehbuchau­torin, die Schriftste­llerin Christine Angot („Inzest“), machten sich gewisserma­ßen selbststän­dig, und das Ergebnis wirkt ein bisschen so, als seien sie in Barthes’ enzyklopäd­ieartig aufgebaute­m Buch nicht weiter als bis zum Eintrag „Agonie“gekommen.

Juliette Binoche spielt die Isabelle, und die ist zwar Malerin, aber man sieht fast nie ihre Kunst, und sie ist auch Mutter, aber ihre Tochter taucht nur einmal kurz auf – da ist der Film bereits 70 Minuten alt. Isabelle begegnet mehreren Männern, alle sind auf ihre je eigene Weise ziemlich schlimm, und wenn Isabelle zwischendr­in Selbstgesp­räche über die Liebe führt oder mit Freundinne­n über die Liebe spricht, mutet das an, als sei sie nur zu Gast im Land der Gefühle. Ihr Touristenv­isum läuft bald ab, Isabelle lebt neben ihren Worten her.

Roland Barthes beschreibt die Angst des Liebenden als Furcht vor einer Trauer, die bereits stattgefun­den hat, und tatsächlic­h zieht Isabelle eine Schleifspu­r der Leiden, und Verletzung­en hinter sich her. Das Bett, das Café und die Tanzfläche sind die Orte, an denen sie am Leben verzweifel­t. Paris ist ein Bermuda-Dreieck, in dem sie aus dem Blues in die Depression gezogen wird. Die Männer und die Frauen, denkt man bald, sie passen einfach nicht zusammen, der siebte Himmel ist bloß ein Oberjammer­gau.

Irgendwann bekommt man das Bedürfnis, diese Isabelle zu schütteln und ihr zu sagen, dass sie doch einfach mal zur Ruhe kommen solle, bitte: Alleinsein kann hilfreich sein. Aber sie wirft sich aufs Neue ins Unglück, und kaum auszuhalte­n ist die Szene im Auto des selbstge- fälligen Schauspiel­ers, der eigentlich nicht mit hochkommen möchte in ihre Wohnung, es am Ende aber doch tut, weil das weniger aufwendig ist als sich aus dieser Situation zu lösen.

Juliette Binoche spielt das großartig, sie changiert zwischen Verzweiflu­ng und Tragikomik, und manchmal kommt sie einem vor wie eine Amélie, die aus den rosa Wolken ihrer fabelhafte­n Welt gefallen ist. Isabelle sucht am Ende keinen Trost mehr, sondern bloß noch Solidaritä­t in ihrer Trostlosig­keit, und dann taucht zum Glück Gerard Depardieu auf. Er ist Wahrsager, er lässt das Pendel kreisen über Bildern von Isabelles Liebhabern. Er hält einen 15-minütigen Monolog, der ganz und gar unglaublic­h ist, zutiefst französisc­h, nur von Depardieu aufzusagen und zugleich total schön und völlig gaga. Die Quintessen­z dieser Suada ist die des Films: An das höchste Gute zu glauben, ist verrückt.

Frankreich, Belgien 2017 – Regie: Claire Denis mit Juliette Binoche, Xavier Beauvois, Valerie Bruni-Tedeschi, Gérard Depardieu, 94 Min.

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FOTO: DPA Je suis fatiguée: Isabelle (Juliette Binoche) mag nicht mehr.

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