Rheinische Post Krefeld Kempen
Deutschland muss dienen und führen Populismus aus osteuropäischer Sicht
Die Bundesrepublik kann sich nicht mehr nur auf die USA verlassen.
Der bulgarische Autor Krastev erklärt die Furcht vor Überfremdung.
Einer der wesentlichen, wenn auch wohl noch nicht der entscheidende Knackpunkt beim Scheitern der Jamaika-Gespräche war die Europapolitik, konkret: der Dissens über eine endgültige Ausweitung der Transferunion in der EU. Dies könnte als ein erstes Zeichen dafür genommen werden, dass nun auch in der Berliner Politik die langjährige öffentliche Diskussion über die Rolle Deutschlands in Europa erstmals angekommen ist.
Das Buch von Leon Mangasarian und Jan Techau über eine „Führungsmacht Deutschland“ist der aktuelle Höhepunkt dieser Diskussion. Erstmals beschäftigt es sich mit dem Thema der „strategischen Kultur“. Darunter versteht man die zielbewusste Vorausschau und das Handeln eines Landes.
Mangasarian und Techau sind Politikwissenschaftler, geprägt durch langjährige Beschäftigung mit außenpolitischen Themen, insbesondere zu Fragen der Nato und der EU. Ihr Fokus reduziert sich nicht auf ein Land, sondern behält Deutschlands europäisches und atlantisches Umfeld im Blick. Dabei stellen sie die internationalen Veränderungen fest, denen auch Deutschland ausgesetzt ist: dass erstmals die amerikanische Sicher- heitsgarantie für Europa in Gefahr sei und Nato und EU „dysfunktional oder sogar irrelevant zu werden“drohen. Dass der „ganze osteuropäische Raum“unter russischen Druck gerate, der Nahe Osten, Nordafrika und Subsahara-Afrika im Chaos versinken, der Balkan unter islamistischen und russischen Einfluss gerate und, ganz aktuell, auch China zunehmend seine Macht in Südosteuropa ausbaue, mit möglichen spaltenden Auswirkungen auf die EU.
Da Deutschland eine Führungsrolle nie angestrebt habe und deshalb unvorbereitet sei auf diese neuen Herausforderungen, sei ein grundlegender „Mentalitätswechsel“nötig. Kernstück eines solchen Mentalitätswechsels müsse eine „dienende Führerschaft“sein, die es „Deutschland erlaubt, sich in den Dienst einer größeren Sache zu stellen“, der Sache Europas.
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Dies gilt vor allem für die europapolitischen Vorschläge, die sich in eingefahrenen Gleisen bewegen: Zwar räumen die Autoren ein, dass „der europäische Bundesstaat“eben „kein realistisches Ordnungsmodell“sei, fordern aber Ausbau und Etablierung einer „Transfer- und Schuldenunion“! Ob ein solches europäisches Finanzregime überhaupt tragfähig sei, sagen sie nicht. Nur dass es sehr teuer würde, vor allem für Deutschland.
Insgesamt aber ist das vorgestellte Buch nur ein aktuelles Beispiel für die zahlreichen Veröffentlichungen, die das Bewusstsein für einen realistischen deutschen Politikwechsel schärfen wollen. Das Buch ist Pflichtlektüre für alle, die sich in Deutschland mit Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigen. Gegenwärtige Gefährdungen der EU sind unbestreitbar. Es überwiegt eine westeuropäische Sicht, geschichtsideologisch überhöht wie bei Heinrich August Winkler, der eine „Urdifferenz“zwischen Westen und Osten sieht, oder vorurteilsbehaftet gegenüber Osteuropa. Umso aufklärender ist der Essay von Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, wissenschaftlich tätig sowohl dort als auch in Österreich und den USA. Er geht von der Frage aus, ob die EU zerfallen könnte – wie das Habsburgerreich 1918.
Krastev hält Europa für gespalten in links und rechts, Nord und Süd, große und kleine Staaten, solche, die mehr Europa, und solche, die weniger oder gar kein Europa wollen. Dazu kommt die Spaltung zwischen „jenen, die Zerfall aus eigner Anschauung, und jenen, die ihn nur aus Lehrbüchern kennen. Das ist der Graben zwischen denen, die den Zusammenbruch des Kommunismus am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatischen Ereignissen verschont blieben“.
Die Gefährdungen der EU gründen in der Migration. Sie ist die „neue Revolution“, aber „keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhundert, sondern eine vom Exodus getriebene Revolution, getragen von Einzelnen, inspiriert nicht von ideologisch gefärbten Bildern einer strahlenden Zukunft, sondern von auf Google Maps verbreiteten Fotos vom Leben auf der anderen Seite der Grenze“. Diese Revolution führt zu den zwei Fragen Krastevs, wie die Flüchtlingskrise die europäischen Gesellschaften verändert hat und warum die Bürger die demokratischen Eliten verachten. Antworten sieht er in der elementaren Fehldiagnose vom Ende der Geschichte, in der Krise der Linken, die den Widerspruch zwischen dem universalen Anspruch der Menschenrechte und ihrer Ausübung im nationalen Kontext nicht aufzulösen vermögen.
Populismus ist in Mitteleuropa – so ordnet Krastev die postkommunistischen EU-Mitgliedstaaten ein – virulent. Die Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen hat drei Wurzeln. Geschichtlich ist es die Begründung der Staatlichkeit in ethnisch homogenen Nationen zum Ende des 19. Jahrhunderts. Demografisch wird diese nationale Identität durch die Emigration ihrer aktiveren Landsleute gefährdet. Dazu kommen Paradoxien der postkommunistischen Übergangsphase, etwa die Enttäuschung über den Wohlstandsrückstand gegenüber Westeuropa.
Den mitteleuropäischen Paradoxien stehen ein westeuropäisches und ein Brüsseler Paradoxon gegenüber. Das westeuropäische besteht in einem Politikverständnis, das zu kurzfristigen Bewegungen führt, die in Bedeutungslosigkeit enden, das Brüsseler im Anspruch auf die Anerkennung seiner meritokratischen Verdienste, was aber populistische Reaktionen herbeiführt. Von EUVerlierern werden meritokratische Eliten und von ihnen akzeptierte Migranten als „Zwillinge“gesehen.
Krastev hält den Erhalt der EU für möglich und wünscht ihn – „die Krisen haben mehr als die Brüsseler Kohäsionsbemühungen zu dem Gefühl beigetragen, dass wir Europäer Teil derselben politischen Gemeinschaft sind“. Geschichte kommt nicht zum Ende, sondern besteht in wechselnden Ereignissen. „Statt den Versuch zu machen, das Überleben der EU durch eine Stärkung ihrer Legitimation zu sichern, kann die Demonstration ihrer Überlebensfähigkeit zu einer wichtigen Legitimationsquelle werden.“