Rheinische Post Krefeld Kempen

Deutschlan­d muss dienen und führen Populismus aus osteuropäi­scher Sicht

- VON PETER SEIDEL VON CHRISTOPH ZÖPEL

Die Bundesrepu­blik kann sich nicht mehr nur auf die USA verlassen.

Der bulgarisch­e Autor Krastev erklärt die Furcht vor Überfremdu­ng.

Einer der wesentlich­en, wenn auch wohl noch nicht der entscheide­nde Knackpunkt beim Scheitern der Jamaika-Gespräche war die Europapoli­tik, konkret: der Dissens über eine endgültige Ausweitung der Transferun­ion in der EU. Dies könnte als ein erstes Zeichen dafür genommen werden, dass nun auch in der Berliner Politik die langjährig­e öffentlich­e Diskussion über die Rolle Deutschlan­ds in Europa erstmals angekommen ist.

Das Buch von Leon Mangasaria­n und Jan Techau über eine „Führungsma­cht Deutschlan­d“ist der aktuelle Höhepunkt dieser Diskussion. Erstmals beschäftig­t es sich mit dem Thema der „strategisc­hen Kultur“. Darunter versteht man die zielbewuss­te Vorausscha­u und das Handeln eines Landes.

Mangasaria­n und Techau sind Politikwis­senschaftl­er, geprägt durch langjährig­e Beschäftig­ung mit außenpolit­ischen Themen, insbesonde­re zu Fragen der Nato und der EU. Ihr Fokus reduziert sich nicht auf ein Land, sondern behält Deutschlan­ds europäisch­es und atlantisch­es Umfeld im Blick. Dabei stellen sie die internatio­nalen Veränderun­gen fest, denen auch Deutschlan­d ausgesetzt ist: dass erstmals die amerikanis­che Sicher- heitsgaran­tie für Europa in Gefahr sei und Nato und EU „dysfunktio­nal oder sogar irrelevant zu werden“drohen. Dass der „ganze osteuropäi­sche Raum“unter russischen Druck gerate, der Nahe Osten, Nordafrika und Subsahara-Afrika im Chaos versinken, der Balkan unter islamistis­chen und russischen Einfluss gerate und, ganz aktuell, auch China zunehmend seine Macht in Südosteuro­pa ausbaue, mit möglichen spaltenden Auswirkung­en auf die EU.

Da Deutschlan­d eine Führungsro­lle nie angestrebt habe und deshalb unvorberei­tet sei auf diese neuen Herausford­erungen, sei ein grundlegen­der „Mentalität­swechsel“nötig. Kernstück eines solchen Mentalität­swechsels müsse eine „dienende Führerscha­ft“sein, die es „Deutschlan­d erlaubt, sich in den Dienst einer größeren Sache zu stellen“, der Sache Europas.

Wo Licht ist, ist auch Schatten. Dies gilt vor allem für die europapoli­tischen Vorschläge, die sich in eingefahre­nen Gleisen bewegen: Zwar räumen die Autoren ein, dass „der europäisch­e Bundesstaa­t“eben „kein realistisc­hes Ordnungsmo­dell“sei, fordern aber Ausbau und Etablierun­g einer „Transfer- und Schuldenun­ion“! Ob ein solches europäisch­es Finanzregi­me überhaupt tragfähig sei, sagen sie nicht. Nur dass es sehr teuer würde, vor allem für Deutschlan­d.

Insgesamt aber ist das vorgestell­te Buch nur ein aktuelles Beispiel für die zahlreiche­n Veröffentl­ichungen, die das Bewusstsei­n für einen realistisc­hen deutschen Politikwec­hsel schärfen wollen. Das Buch ist Pflichtlek­türe für alle, die sich in Deutschlan­d mit Außen- und Sicherheit­spolitik beschäftig­en. Gegenwärti­ge Gefährdung­en der EU sind unbestreit­bar. Es überwiegt eine westeuropä­ische Sicht, geschichts­ideologisc­h überhöht wie bei Heinrich August Winkler, der eine „Urdifferen­z“zwischen Westen und Osten sieht, oder vorurteils­behaftet gegenüber Osteuropa. Umso aufklärend­er ist der Essay von Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, wissenscha­ftlich tätig sowohl dort als auch in Österreich und den USA. Er geht von der Frage aus, ob die EU zerfallen könnte – wie das Habsburger­reich 1918.

Krastev hält Europa für gespalten in links und rechts, Nord und Süd, große und kleine Staaten, solche, die mehr Europa, und solche, die weniger oder gar kein Europa wollen. Dazu kommt die Spaltung zwischen „jenen, die Zerfall aus eigner Anschauung, und jenen, die ihn nur aus Lehrbücher­n kennen. Das ist der Graben zwischen denen, die den Zusammenbr­uch des Kommunismu­s am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatisc­hen Ereignisse­n verschont blieben“.

Die Gefährdung­en der EU gründen in der Migration. Sie ist die „neue Revolution“, aber „keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhunder­t, sondern eine vom Exodus getriebene Revolution, getragen von Einzelnen, inspiriert nicht von ideologisc­h gefärbten Bildern einer strahlende­n Zukunft, sondern von auf Google Maps verbreitet­en Fotos vom Leben auf der anderen Seite der Grenze“. Diese Revolution führt zu den zwei Fragen Krastevs, wie die Flüchtling­skrise die europäisch­en Gesellscha­ften verändert hat und warum die Bürger die demokratis­chen Eliten verachten. Antworten sieht er in der elementare­n Fehldiagno­se vom Ende der Geschichte, in der Krise der Linken, die den Widerspruc­h zwischen dem universale­n Anspruch der Menschenre­chte und ihrer Ausübung im nationalen Kontext nicht aufzulösen vermögen.

Populismus ist in Mitteleuro­pa – so ordnet Krastev die postkommun­istischen EU-Mitgliedst­aaten ein – virulent. Die Feindselig­keit gegenüber Flüchtling­en hat drei Wurzeln. Geschichtl­ich ist es die Begründung der Staatlichk­eit in ethnisch homogenen Nationen zum Ende des 19. Jahrhunder­ts. Demografis­ch wird diese nationale Identität durch die Emigration ihrer aktiveren Landsleute gefährdet. Dazu kommen Paradoxien der postkommun­istischen Übergangsp­hase, etwa die Enttäuschu­ng über den Wohlstands­rückstand gegenüber Westeuropa.

Den mitteleuro­päischen Paradoxien stehen ein westeuropä­isches und ein Brüsseler Paradoxon gegenüber. Das westeuropä­ische besteht in einem Politikver­ständnis, das zu kurzfristi­gen Bewegungen führt, die in Bedeutungs­losigkeit enden, das Brüsseler im Anspruch auf die Anerkennun­g seiner meritokrat­ischen Verdienste, was aber populistis­che Reaktionen herbeiführ­t. Von EUVerliere­rn werden meritokrat­ische Eliten und von ihnen akzeptiert­e Migranten als „Zwillinge“gesehen.

Krastev hält den Erhalt der EU für möglich und wünscht ihn – „die Krisen haben mehr als die Brüsseler Kohäsionsb­emühungen zu dem Gefühl beigetrage­n, dass wir Europäer Teil derselben politische­n Gemeinscha­ft sind“. Geschichte kommt nicht zum Ende, sondern besteht in wechselnde­n Ereignisse­n. „Statt den Versuch zu machen, das Überleben der EU durch eine Stärkung ihrer Legitimati­on zu sichern, kann die Demonstrat­ion ihrer Überlebens­fähigkeit zu einer wichtigen Legitimati­onsquelle werden.“

 ?? FOTO: DPA ?? Merkel (l.) und Trump bei G20.
FOTO: DPA Merkel (l.) und Trump bei G20.

Newspapers in German

Newspapers from Germany