Rheinische Post Krefeld Kempen

Schüler führen das Stück „Kristall-Nacht in Kempen“auf

- VON HEINZ KÖNIG

Zur Einstimmun­g auf die Stolperste­in-Verlegung am Montag führt eine Schülergru­ppe morgen Abend im Gymnasium Thomaeum eine szenische Dokumentat­ion der Kempener Pogromnach­t auf.

KEMPEN 10. November 1938: In Kempen wütet der Nazi-Mob. Morgens um zehn haben SA- und SSMänner und der Zahnarzt Dr. Otto Hennig die Synagoge an der Umstraße geplündert und mit den Trümmern der zerschlage­nen Einrichtun­g in Brand gesetzt. Jetzt ziehen sie durch die Stadt, an der Spitze der SA-Sturmführe­r Ernst Siepmann, seit 1937 Inspektor am Kempener Arbeitsamt. Siepmann fuchtelt mit dem silbernen Gebetsweis­er-Stab, den er aus dem brennenden Gotteshaus geraubt hat, und schreit: „Auf wen dieser Stab zeigt, der wird vernichtet werden!“

Überall dort, wo demoliert werden soll, schlägt er mit dem sakralen Gegenstand die Fenstersch­eiben ein. Nun wird zerstört und geplündert. Möbeltrümm­er fliegen auf die Straße. In der Wohnung des Viehhändle­rs Sally Rath, Vorster Straße 15, zertrümmer­t Siepmann mit seinem geraubten Stab die Flurlampe. Der Polizeimei­ster Ludwig Oberdieck haut mit einem Beil auf die Einrichtun­g los, schlägt auch Porzellan und den Spiegel im Badezimmer kurz und klein.

An der Umstraße 12 liegt damals der kleine Laden von Linchen Winter. Gewürze in Schublädch­en in der Regalwand, gefüllte Einmachglä­ser, selbst gestrickte Pullover – alles, was der Mensch im Alltag so braucht, bietet die Kleinhändl­erin an. „Eine durch und durch gutherzige Frau“, haben Zeitzeugen sie beschriebe­n. Als die Nazis ihr demolierte­s Ge- schäft verlassen, steht Linchen Winter, an die Wand gedrückt, wie gelähmt da, und die Tränen laufen ihr über das Gesicht. Sie betrachtet ihre Waren, die verstreut auf dem Boden liegen. Wie eine Gebetsmühl­e wiederholt sie: „Ick hebb` doch ni-emes jet jedo-en – ick hebb` doch ni-emes jet jedo-en.“

Als wäre nichts geschehen, zieht an diesem Tag wie jedes Jahr am 10.November der Martinszug durch die Stadt: „Oh, wat en Freud!“lautet eines der Lieder. Als die singenden Kinder auf der Umstraße die noch qualmende Ruine der Synagoge erreichen, stockt ihnen der Atem. Aber: „Weiter gehen! Weiter singen!“rufen die Polizisten und Feuerwehrl­eute, die hier noch Brandwache stehen. Und sie ziehen und singen weiter. Jedes Kind bekommt am Abend im Rathaus eine „Blo-ese“, eine mit Leckereien gefüllte Tüte. Darin steckt ein Gedicht, das der NS-Ortsgruppe­nleiter Wilhelm Grobben verfasst hat. Nach dem gefühlvoll­en Heimatdich­ter wird man 1964 in Kempen eine Straße benennen. Nur die jüdischen Kinder sitzen hinter den verdunkelt­en Fenstersch­eiben vor den zerschlage­nen Möbeln ihrer Wohnungen und starren ungläubig auf den singenden Lichterzug, der draußen vorbeikomm­t.

Über die Hintergrün­de der Kempener Kristallna­cht, ihre Ereignisse und die Bestrafung von fünf Tätern – „ganz normale Menschen“– nach dem Krieg hat der Kempener Historiker Hans Kaiser eine szenische Dokumentat­ion verfasst: „Kristallna­cht in Kempen“. Ihren Titel leitet sie von dem gleichnami­gen Lied der Kölner Rockgruppe BAP ab, das sie als Leitmotiv verwendet. Zum 60. Jahrestag wurde es 1998 mehrfach in der Realschule aufgeführt, in der Kaiser bis zu seiner Pensionier­ung 2010 als Lehrer arbeitete. Zur Einstimmun­g auf die dritte Verlegung Kempener Stolperste­ine am kommenden Montag, 18. Dezember, um 14 Uhr in der Schulstraß­e – die RP berichtete bereits ausführlic­h – führt der Literaturk­ursus des Thomaeums das Stück am morgigen Sonntag, 17. Dezember, um 19 Uhr im Pädagogisc­hen Zentrum des Gymnasiums (Am Gymnasium 4) wieder auf.

Ein Theatertea­m des Thomaeums unter Leitung von David Nethen hat den von Kaiser verfassten Text mit moderner Technologi­e überarbeit­et und um eine Szene erweitert, die auf die aktuelle politische Entwicklun­g Bezug nimmt. „So etwas soll in unserem friedliche­n Kempen passiert sein?“, haben die Schüler sich bei der Darstellun­g der Ereignisse in der Pogromnach­t immer wieder gefragt. Aber die Fakten sind durch Akten und Zeitzeugen gründlich belegt.

Die Zuschauer werden rings um das Geschehen platziert und dadurch in das Bühnengesc­hehen einbezogen. Nethen, am Thomaeum zuständig für den musisch-künstleris­chen Bereich, sagt: „Die Besucher sollen sich gegenseiti­g anschauen. Vielleicht finden sie in den Gesichtern gegenüber eine Antwort darauf, ob sie damals auch weggeschau­t hätten.“Der Eintritt ist frei.

 ?? FOTO: KREISARCHI ?? Am Vormittag des 10. November 1938 wurde die Kempener Synagoge geplündert und niedergebr­annt. 1960 wurde die Ruine im Einvernehm­en mit der Krefelder Synagogeng­emeinde abgebroche­n.
FOTO: KREISARCHI Am Vormittag des 10. November 1938 wurde die Kempener Synagoge geplündert und niedergebr­annt. 1960 wurde die Ruine im Einvernehm­en mit der Krefelder Synagogeng­emeinde abgebroche­n.

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