Rheinische Post Krefeld Kempen

Loveparade-Opfer: „Die sind über mich rübergetra­mpelt“

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Im Strafproze­ss zur Loveparade-Katastroph­e hat die erste Zeugin ausgesagt. Es war für sie ein sehr emotionale­r Moment.

DÜSSELDORF Es ist 11.55 Uhr, als der Vorsitzend­e Richter Mario Plein die erste Zeugin im Loveparade-Prozess zu sich nach vorne bittet. Bianca B. (31) ist am 24. Juli 2010 im tödlichen Gedränge gewesen und beinahe ums Leben gekommen. Plein möchte von ihr wissen, wie sie den Tag erlebt hat, mit wem und wie sie zur Loveparade gegangen ist und wie sie ins Gedränge geraten konnte. Und er möchte das alles möglichst genau wissen. B. ist bereit, ihm alles zu erzählen.

Als sie damit beginnt, ist es mucksmäusc­henstill im großen Sitzungssa­al im Congress Center Düsseldorf, einer eigens für den Prozess angemietet­en Außenstell­e des Duisburger Landgerich­ts. B. sitzt neben ihrem Anwalt. Es fällt ihr merklich schwer, über jene Vorkommnis­se zu sprechen, die ihr Leben und das so vieler anderer für immer verändert haben. Während ihrer Ausführung­en bricht immer wieder die Stimme. Sie hält die ganze Zeit über Ta- schentüche­r in der Hand. Einmal muss Plein ihre Zeugenauss­age unterbrech­en, weil die junge Frau nicht mehr kann und eine Pause benötigt.

Zum Zeitpunkt des Unglücks ist B. 24 Jahre alt. Wie so viele andere Duisburger will auch sie sich die Loveparade in ihrer Heimatstad­t anschauen. Wann hat man schon einmal so ein Großereign­is vor der Haustür? Sie wohnt im westlichen Stadtteil Rheinhause­n. Gemeinsam mit ihrer Schwester und einer Freundin will sie zum Technospek­takel. Die drei jungen Frauen trinken zur Feier des Tages noch ein Glas Sekt zu Hause, lassen sich von einem Taxi zur Loveparade fahren. In Höhe des Duisburger Polizeiprä­sidiums, das unweit des Veranstalt­ungsgeländ­es liegt, werden sie abgesetzt. Den restlichen Weg gehen sie zu Fuß. Sie kommen gut durch, es ist es nicht ganz so voll. Vor dem Tunnel werden sie von Securitymi­tarbeitern kontrollie­rt und dann durchgelas­sen. „Die Leute haben gelacht, getanzt und gesungen“, sagt sie. Eine tolle Stimmung sei das gewesen. Das muss so gegen 14.30 Uhr gewesen sein. An die genaue Uhrzeit kann sie sich nicht mehr erinnern. Sie habe jegliches Zeitgefühl, was den Tag betreffe, verloren.

Als sie den Tunnel passiert hat und die Rampe hochgeht zum Veranstalt­ungsgeländ­e, kommt sie

Bianca B., schon nicht mehr weit. Ein Labyrinth aus Zäunen, wie sie es nennt, hindert sie und viele andere am oberen Ende der Rampe am Weiterkomm­en. „Keine Ahnung, wieso die Zäune da so angeordnet waren. Aber die Menschen sind dort schon gegengespr­ungen und darüber geklettert“, sagt B. „Ich habe zu meiner Schwester gesagt, dass wir hier wegmüssen, weil sonst noch was Schlimmes passieren könnte.“Sie weichen auf einen Hügel an der Seite aus, um von dort einen Blick auf die Technopara­de zu haben. Dabei rutscht ihre Schwester aus und verletzt sich an der Hand. Sie suchen einen Sanitäter. Weil sie nicht aufs Gelände kommen, gehen sie deshalb die Rampe wieder nach unten. Dass sie mitten in die tödliche Massenpani­k laufen, wissen sie nicht.

Eine Polizeiket­te inmitten der Rampe versperrt ihnen den Weg. Eine Polizistin habe ihr gesagt, dass sie das Gelände nicht verlassen könnten, weil es zu voll sei. Erst wenn es wieder ruhiger werde. Aber es wird nicht ruhiger. Es wird immer voller. „Ich konnte keinen einzigen Schritt mehr zurück oder vor gehen“, erinnert B. sich. Dann wird die Polizeiket­te „gesprengt“, der Druck der Massen ist zu groß geworden. Nun stoßen Tausende Besucher, die das Gelände verlassen wollen, auf Tausende Besucher, die aufs Gelände wollen – und das völlig unkontroll­iert. Es gibt keine Polizisten oder Securitykr­äfte mehr, die eingreifen und helfen. Und es gibt keine Lautsprech­erdurchsag­en, die vor der Gefahr warnen. „Ich habe mich gefühlt wie in einer Sardinenbü­chse und habe keine Luft mehr bekommen“, sagt B. Ihre Schwester verliert sie im Gedränge aus den Augen. Ein junger Mann zieht sie zur Treppe, an deren Fuß später die meisten Leichen gefunden werden. Auf der zweiten Stufe stürzt sie – und kommt nicht mehr hoch.

„Viele sind über mich und andere rübergetra­mpelt“, sagt sie. Dann wird sie bewusstlos und erst wieder auf der Intensivst­ation eines Krankenhau­ses wach. Sie überlebt schwer verletzt. Bis heute ist sie traumatisi­ert. „Ich brauche nur was zu riechen, was mich an damals erinnert, und alles kommt sofort hoch“, sagt sie.

„Ich brauche nur was zu riechen, was mich an damals erinnert, und alles kommt sofort hoch“

Zeugin

der Loveparade kamen am 24. Juli 2010 in Duisburg 21 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt und traumatisi­ert. Für den Prozess sind 111 Verhandlun­gstage angesetzt. Heute wird er fortgesetz­t.

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