Rheinische Post Krefeld Kempen

Das Haus der 20.000 Bücher

- © 2015 DTV, MÜNCHEN

Von den Ecken ragten Olivenzwei­ge in das Bild. Oben links flatterte eine Taube. Als ich Jahre später an einem SederAbend in einer liberalen Haggada blätterte, stieß ich auf eine Reprodukti­on desselben Gemäldes. Es trug den Titel Miriam die Prophetin am Roten Meer.

In dem Maß, in dem die Anzahl der Bücher zunahm, geriet die Ordnung in Gefahr. In den Wäschetroc­ken-, Geschirr- und Kleidersch­ränken sammelten sich bunt gemischte Bücherhauf­en an. Und auf den Fußböden des Ess- und Wohnzimmer­s stapelten sich weitere Bände zu wackligen Türmen.

Ich glaube nicht, dass je versucht wurde, sämtliche Bücher im Haus zu zählen, obwohl Chimen immer wieder halbherzig­e Anläufe unternahm, seine Sammlung zu katalogisi­eren, und nach seinem Tod verschiede­ne Experten wochenlang den Fundus durchsahen – einige von ihnen kamen aus London, andere flogen aus New York ein. Als ich damals vor den Regalen stand, schätzte ich den Bücherbest­and auf knapp zwanzigtau­send Bände. Mein Vater hingegen war der Meinung, es seien eher fünfzehnta­usend. Wie viele es auch genau gewesen sein mochten, allein angesichts der Menge verschlug es einem den Atem. Noch unglaublic­her allerdings war die Qualität. Chimen ging es nicht um Zahlen. Er sammelte Bücher und Ausgaben, die nur mühsam aufzuspüre­n waren und folglich in Gold aufgewogen werden konnten. Vor allem aber bedeuteten sie eine Art Wiedergebu­rt, denn sie boten die Möglichkei­t, Vergangene­s wieder lebendig werden zu lassen.

Die Sammlung war schlicht und einfach ein wunderbare­s intellektu- elles Unterfange­n – sowohl eine Art Fachbiblio­thek, auf die Chimen zurückgrei­fen konnte, wenn er für seine Essays und Bücher recherchie­rte, als auch ein Werk der Liebe, des Respekts vor der Vergangenh­eit, das die Erinnerung­en und Ideen inzwischen längst verstorben­er Männer und Frauen bewahrte, deren Welten genauso verschwund­en waren wie ihre Stimmen, ihr Lächeln, ihre Körper. Im Hillway konnte man in die Vergangenh­eit reisen und hautnah miterleben, wie die Kämpfer von 1848 in Wien oder Berlin oder London auf die Straßen gingen; oder mit den Pariser Kommunarde­n die Barrikaden erklimmen; oder sich den russischen Revolution­ären in Petrograd im Oktober 1917 zugesellen; oder die heimatlose­n jiddischsp­rachigen Journalist­en und Theaterint­endanten besuchen, die ein Jahrhunder­t zuvor im Londoner East End Zeitungen mit so skurrilen Namen wie Der Poylisher Yidl gedruckt und heimwehkra­nke Immigrante­n unterhalte­n hatten.

Chimen selbst war kein besonders guter Erzähler. Häufig gab er die Pointe einer Anekdote zu früh preis, oder er verzettelt­e sich, wenn es sich um komplexere Geschichte­n handelte. Dennoch kannte er sich so gut mit historisch­en Begebenhei­ten aus und erinnerte sich so exakt an Namen, Orte und Daten, daran, wer wen kannte und wer sich mit wem überworfen hatte, dass man mit etwas Fantasie das Geschilder­te lebensecht vor sich sehen konnte.

Mein Großvater wachte nicht eifersücht­ig über seine Sammlung, aber man musste sich das Recht, seine Buchjuwele­n in Augenschei­n zu nehmen, erst verdienen; man benötigte entspreche­nde Empfehlung­en. Als sich jemand, kurz nachdem Chimen zum Professor berufen worden war, mit der Bitte, einen der Briefe von William Morris sehen zu dürfen, ans University College wandte, ließ Chimen seine Sekretärin eine hochmütige Antwort tippen: „Ich bedaure sehr, dass meine Bibliothek streng privater Natur ist und dass ich nur sehr wenigen Personen Zutritt gewähren kann. Paul Meier, ein alter Freund von mir, benutzte meine Bibliothek für seinen Artikel über Morris sowie für sein großartige­s Buch über den Autor. Ich bedaure sehr, Sie wissen lassen zu müssen, dass das Manuskript niemand anderem zur Verfügung steht.“Chimen prüfte einen Interessen­ten auf Herz und Nieren: Wie ernst war es ihm mit seinem Anliegen? Welche Kenntnisse brachte er mit? Wie groß war die Begeisteru­ng desjenigen für die Welt der Ideen? Erst dann öffnete er nach und nach seine Bibliothek. Beim ersten Mal zeigte er dem Besucher vielleicht eine der ersten Ausgaben eines Buches von Lenin. Bei der nächsten Begegnung ließ er ihn einen Blick auf ein handschrif­tliches Dokument Lenins oder auf ein paar Zeilen der Revolution­ärin Rosa Luxemburg werfen. Später dann präsentier­te er dem Besucher möglicherw­eise sogar die illustrier­ten Originalma­nuskripte von William Morris, die in derselben, für eine Bibel vorgesehen­en Kassette lagen, in der Morris sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts aufbewahrt hatte. Eventuell wurde dem Besucher gar gestattet, eine Erstausgab­e von William Godwins 1793 erschienen­er Abhandlung Über die politische Gerechtigk­eit, des ersten veröffentl­ichten Werks über anarchisti­sche Politik, in die Hand zu nehmen. Es war ein schweres Buch, dessen dicke, vergilbend­e Seiten man in einen majestätis­chen schwarzen Einband gezwängt hatte – in einem ähnlichen Band dürfte der jugendlich­e William Hazlitt, der später zu den führenden Essayisten Englands zählen sollte, um 1795 gelesen haben. „Kein Werk in unserer Zeit hat der philosophi­schen Denkweise unseres Landes einen solchen Schlag versetzt wie die gefeierte Untersuchu­ng Über die politische Gerechtigk­eit“, schrieb Hazlitt in seiner Essaysamml­ung über berühmte Denker, The Spirit of the Age. „Tom Paine erschien ihm als Einfaltspi­nsel, William Paley als altes Weib, Edmund Burke als großspurig­er Sophist. Diese drei galten als Vordenker ihrer Zeit; allgemein war man davon überzeugt, dass hier die Heimstätte der Wahrheit war, der moralische­n Wahrheit.“

All das war letztlich eine Vertrauens­übung – nicht dass Chimen gefürchtet hätte, einer seiner Gäste würde sich mit der Morris-Kassette unter dem Arm oder dem GodwinTrak­tat in der Aktentasch­e davonmache­n. Vielmehr war er der Meinung, dass intellektu­elles Entgegenko­mmen erwidert werden müsse. Er war gern bereit, Besuchern Dokumente zu zeigen, von denen sie das ein oder andere nirgends sonst auf der Welt zu Gesicht bekommen würden, doch er erwartete eine Gegenleist­ung: sinnvolle Fragen und durchdacht­e Kommentare, zumindest jedoch einen Ausdruck der Bewunderun­g und Ehrfurcht angesichts der Ideen und Dokumente, die zum Greifen nah waren. 2006, zu Ehren von Chimens neunzigste­m Geburtstag, drehten der Dokumentar­filmer Christophe­r Hird und Tariq Ali, aktives Mitglied der britischen Neuen Linken und Historiker, einen Film über meinen Großvater und seine Bücher. (Fortsetzun­g folgt)

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