Rheinische Post Krefeld Kempen
„Eine schreckliche Einzeltat“
An der Gesamtschule in Lünen herrscht großes Entsetzen über die Bluttat. Die meisten Schüler haben sich von ihren Eltern abholen lassen. Ein langjähriger Freund des Täters kann sich nicht erklären, wieso dieser das machte.
LÜNEN Der Schulhof der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Lünen ist gestern Vormittag mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Das Gebäude ist umstellt von schwer bewaffneten Polizisten einer Einsatzhundertschaft. Zeitweise kreist ein Hubschrauber über der Schule, auf die rund 1000 Kinder und Jugendliche gehen. Kemal K.* steht mit anderen Mitschülern neben einem Zaun am Eingang zum Schulgelände. Die tödliche Attacke auf seinen Mitschüler Marvin ist erst kurze Zeit her. Der 16-jährige Schüler wartet auf seinen Vater, der ihn abholen soll. „Ich will hier nur noch weg“, sagt Kemal. Weg von der Schule. Weg vom Tatort. Und weg von dem vielen Blut, das er gesehen habe. Marvin habe er auch noch gesehen, sagt er. Schwer verletzt auf jeden Fall, aber am Leben. „Er hat sich mit der Hand an den blutenden Hals gefasst“, betont K. Mehr habe er nicht mehr wahrgenommen. „Wir mussten raus, manche sind gerannt. Aber viele wussten gar nicht, wieso.“
Aufklärung über die Bluttat gibt es auch draußen auf dem Schulhof anfangs nur kaum. Nur dass es kein Amoklauf gewesen ist, wird mitgeteilt. Stattdessen bleiben die Ju- gendlichen zunächst mit vielen Fragen allein. Rätselraten. Gerüchte machen sich breit über den Tathergang. Schulleitung, Lehrer und Polizei sagen nichts. Viele Schüler sind verunsichert. Die meisten wissen nur zu berichten, dass der 15-jährige deutsche Täter M. mit kasachischen Wurzeln, der wenig später von der Polizei gefasst worden ist, ein ehemaliger Schüler der Gesamtschule ist.
Am Abend gibt die Staatsanwaltschaft bekannt, dass der polizeibekannte 15-Jährige nach Einschätzung einer Sozialarbeiterin als aggressiv und unbeschulbar gilt und deswegen zwischenzeitlich eine an- dere Schule besuchte. Diese Maßnahme scheiterte und der Junge sollte nun wieder die Käthe-Kollwitz-Gesamtschule besuchen. Daher sollte es gestern, gemeinsam mit der Mutter, ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin in der Schule geben. Während des Wartens auf das Gespräch, traf das spätere Opfer auf den Täter. Nach Angaben des Tatverdächtigen, habe das Opfer seine Mutter mehrfach provozierend angeschaut. Dadurch fühlte sich der 15-Jährige derart gereizt, dass er seinen Mitschüler mit einem Messer in den Hals gestochen habe.
Die 16-jährige Patricia B. hat zu dem Zeitpunkt einen lauten Schrei gehört, sagt sie. Und dann – sekundenbruchteile später – habe sie Marvin und einen Lehrer gesehen, der versucht habe, mit einer Hand die Blutung an Marvins Hals zu stoppen. „Das Hemd von dem Lehrer war voller Blut“, sagt B.
Die 16-Jährige und andere Schüler werden von Notfallseelsorgern und Schulpsychologen betreut. Die meisten aber werden von ihren Eltern abgeholt oder gehen allein nach Hause. „Der Vorfall hat große Betroffenheit im Kollegium und in der ganzen Schule ausgelöst”, sagt Schulleiter Reinhold Bauhus. Es handele sich um eine schreckliche Einzeltat, die nicht absehbar gewesen sei, heißt es in einer Mitteilung auf der Schul-Homepage. Der Unterricht wird heute normal stattfinden; Psychologen werden anwesend sein. „Den Rahmen möchten wir als Schulgemeinde nutzen, um gemeinsam das Erlebte und Geschehene aufzuarbeiten“, so die Schulleitung. Für die Kinder sei es jetzt sehr wichtig, dass ihnen vertraute Schulstrukturen Halt geben, da solche schockierenden Erlebnisse individuell sehr verschieden wahrgenommen werden, heißt es. Ergün M. (15) kennt den Täter seit der ersten Klasse. Eng befreundet seien sie zwar nicht gewesen, aber die Schulzeit hätten sie bis zu M.s Rauswurf zusammen verbracht. „Der ist nicht gewalttätig gewesen. Er hatte auch nie ein Messer bei sich. Keine Ahnung, wieso der jetzt durchgedreht ist.“
Erol. D. hat hingegen das Opfer gut gekannt. Er ist sein Fußballtrainer gewesen, sein Sohn ist in dieselbe Klasse gegangen. „Ich habe ihm am Morgen noch eine Handynachricht geschickt und gefragt, ob er heute zum Training kommt. Aber keine Antwort mehr bekommen“, sagt Erol D., der über das Opfer sagt, dass der Junge aufbrausend gewesen sei, sich häufig habe provozieren lassen. „Ich habe zu ihm gesagt, dass er ruhiger werden müsse.“
Anderthalb Stunden nach der Tat hält Kemals Vater mit seinem Auto vor der Schule. Er hupt einmal kurz. Kemal verabschiedet sich von seinen Mitschülern und sagt: „Bis morgen. Lasst euch nicht unterkriegen.“
Lünen