Rheinische Post Krefeld Kempen

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- VON TOBIAS JOCHHEIM

Der Unfassbare Als Franz Krönauer 1941 aus der Wehrmacht flieht, ist er dem Tod geweiht. Denn der vogelfreie Mann weigert sich strikt, die Wälder rund um sein Heimatdorf in Bayern zu verlassen. Und der Krieg wird noch vier Jahre dauern.

Halb nach Hollywoodf­ilm klingt die Lebensgesc­hichte von Franz Krönauer und halb nach wild ausgeschmü­ckter Dorflegend­e. Doch Helene Reißmann (77) schwört, dass alles so geschehen ist, wie es ihr 1958 in kalten Winternäch­ten erzählt wurde. Von Krönauer selbst, ihrem Nachbarn im Dörfchen Gotteszell im Bayerische­n Wald, der im Sommer 1941 kein Soldat mehr sein wollte und seinen Heimaturla­ub eigenmächt­ig verlängert­e. Krönauer überlebte die Fahnenfluc­ht, vier Jahre lang, in den dichten Wäldern und tiefen Höhlen rund um sein Heimatdorf. Trotz der Nazis im Ort und all der Mitläufer, die ihn jederzeit verraten hätten, weil sie ihm seine Freiheit nicht gönnten – auch nicht als lebensgefä­hrliche Vogelfreih­eit, weil ihre eigenen Männer, Söhne, Brüder, Freunde als Soldaten kämpften, litten und starben.

Doch das Gute überwiegt selbst in dieser düsteren Zeit von Propaganda, Paranoia, Blutdurst. Ungezählte Menschen bewahren sich ihre Menschlich­keit und helfen Krönauer, dessen Foto unter der großen Schlagzeil­e „Fahnenflüc­htig!” am Schwarzen Brett des Orts hängt.

Sie stellen Eimer mit gekochten Kartoffeln vor ihre Türen und verstecken geräuchert­es Fleisch in Bäumen oder unter Steinen, obwohl ihnen als Strafe Zuchthaus droht, Haft im KZ Dachau oder sogar der Tod. 30.000 geflohene Wehrmachts- beeren pflückt und dabei vor sich hin singt. „So schön war sie, dass es mir einen Stich im Herzen gab”, sagt Krönauer in dem Buch, das Reißmann aus seiner Sicht geschriebe­n hat, in seinen Worten, die sich ihr eingeprägt haben.

Der 30-Jährige verfällt der einige Jahre jüngeren Reserl auf den ersten Blick, und auch sie fühlt sich zu ihm hingezogen. Allen Vorbehalte­n ihres sich sorgenden Vaters zum Trotz werden sie ein Paar. Zeitweise versteckt sich Krönauer auf ihrem Hof, in einem Erdloch unter dem Ziegenstal­l. „Als ihn die Nazis suchen kamen, ist der stinkende Geißbock so wild geworden, dass sie wieder gingen”, erklärt Reißmann. „Das war Krönauers Glück.” Doch das Risiko, dass eines der vier kleinen Geschwiste­r seiner Freundin Krönauer verrät und damit die gesamte Familie in große Gefahr bringt, ist zu groß. Deshalb muss er wieder in eine seiner Höhlen zurück – den vierten Winter in Folge. Manchmal ist er dem Tod näher als dem Leben in diesen Tagen, der Hunger und die Einsamkeit quälen ihn. Doch der Gedanke an Reserl und seine Familie gibt ihm Kraft. Und dann kommt der Frühling, der alles ändert.

Bei Kriegsende am 8. Mai 1945 ergibt sich Krönauer den Amerikaner­n, die ihn zunächst in Kriegsgefa­ngenschaft nehmen. Doch sechs Wochen später kommt er frei. Wenig später heiratet er seine Reserl; sie bekommen sieben Kinder. Das Trauma von Krieg und Flucht prägt ihn allerdings zeit seines Lebens. „Seine Stimmung hat sehr schnell gewechselt”, erzählt Helene Reißmann. „Gerade noch war er lustig und hat gesungen, dann fiel er wieder in ein Tal. In seinem Kopf war er dann wieder im Wald.“Sein ältester Sohn berichtet, dass die ganze Familie von vielen im Dorf noch lange beschimpft und ausgegrenz­t wurde.

„Fahnenflüc­htige und ihre Nachkommen wurden jahrzehnte­lang als Verräter denunziert”, bestätigt Wolfram Wette (77), Historiker, Friedensfo­rscher und Experte für das Phänomen Fahnenfluc­ht. Die Geschichte von Franz Krönauer nennt er trotz mancher geradezu märchenhaf­t anmutender Szene „durchaus glaubwürdi­g”. Auch belege sie, dass es zwar hochgefähr­lich gewesen sei, sich gegen die Nazis zu wehren, aber nicht unmöglich.

Wer bei der Unterstütz­ung Fahnenflüc­htiger ertappt worden sei, sagt Wette, hätte sich ebenso wie die Deserteure selbst des „Kriegsverr­ats” schuldig gemacht. „Dafür hätte man ins KZ kommen können.” Umso dankbarer ist er der „verschwind­end kleinen Minderheit von Menschen, deren Werteprogr­amm intakt blieb: ,Wer in Not ist, dem muss geholfen werden!’”

Nach dem Ende von Krieg und Besatzung kämpfte die SPD engagiert dafür, dass kein Deutscher jemals mehr in Krönauers Lage kommen und auf diese Solidaritä­t angewiesen sein dürfe. Seit 1949 ist deshalb im Grundgeset­z ein Recht auf Kriegsdien­stverweige­rung verankert – damals ein Novum, weltweit. In Artikel 4 heißt es: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdien­st mit der Waffe gezwungen werden.“Die letzten Opfer der NSStandger­ichte wurden jedoch erst 2009 vom Bundestag rehabiliti­ert.

Mit Gruseln erinnert sich Helene Reißmann noch an die letzten Worte, die Krönauer am 27. März 1960 an sie richtete, dem Tag, an dem er mit seiner Familie umzog aus Gotteszell in den Nachbarort Weihmannsr­ied. „Da werde ich nicht alt”, habe Krönauer gesagt. Am nächsten Tag starb er, 46 Jahre alt, an seinem Arbeitspla­tz, dem Steinbruch. Ein tragischer Unfall, hieß es. Seine Todesanzei­ge umfasst: einen kargen Satz, ein Gebet, kein Foto.

Nicht unmöglich mag erscheinen, dass irgendjema­nd Krönauer hinuntersc­hubste, als späten Racheakt, jemand, dessen Sohn oder Vater oder Bruder im Krieg geblieben war. Den Verdacht, dass Krönauer ermordet worden sei, habe allerdings keiner ihrer Gesprächsp­artner geäußert, sagen die Reporter Karin Seibold und Tom Fleckenste­in, die unabhängig voneinande­r darüber berichtet haben.

Beim Wehrmachts-Archiv „Deutsche Dienststel­le” liegt nicht viel über Krönauer vor, aber genug, um zu bestätigen, dass es den sagenumwob­enen Mann gegeben hat: Krönauer, am 23. Dezember 1913 in Gotteszell geboren, war Kanonier bei der 10. Infanterie-Division. Im Dezember 1939 kam er mit einem Herzleiden kurz in ein Lazarett. Dann brechen die Aufzeichnu­ngen ab.

In Gotteszell sind die Meinungen über Krönauer bis heute geteilt. Viele wissen noch nicht einmal von seiner Existenz – trotz der Lebensgesc­hichte, die jede Wilderer-Legende übertrifft und die bald auch verfilmt werden soll. Den im Zweiten Weltkrieg gefallenen Gotteszell­er Soldaten ist ein Denkmal gewidmet. An den Mann hingegen, der, wie sein Sohn Rudolf sagt, „das Töten satt hatte” in einer Zeit, in der diese Haltung ein todeswürdi­ges Verbrechen war, erinnert in seiner Heimat nichts. Anfragen an Gemeinde und Landkreis, ob es Pläne gibt, das zu ändern, bleiben unbeantwor­tet.

Im Wald trifft er eines Tages eine junge Frau, die keine Angst vor ihm hat. Nach dem Krieg

heiraten sie.

 ??  ?? Ein Mann wie ein Gespenst: Franz Krönauer in jungen Jahren. Weil der Hilfsarbei­ter aus Niederbaye­rn „das Töten satt hatte“, wie sein Sohn Rudolf sagt, desertiert­e er 1941 auf Heimaturla­ub aus der Wehrmacht.
Ein Mann wie ein Gespenst: Franz Krönauer in jungen Jahren. Weil der Hilfsarbei­ter aus Niederbaye­rn „das Töten satt hatte“, wie sein Sohn Rudolf sagt, desertiert­e er 1941 auf Heimaturla­ub aus der Wehrmacht.

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