Rheinische Post Krefeld Kempen

Augmented Karneval

- VON GEORG WINTERS

Heute ist der 4. März 2030, im Büro findet die Karnevalsp­arty statt. Weil alle verpflicht­et sind, sich am Rosenmonta­g im Sinne der Augmented Reality (AR) veilchenbl­au zu trinken, fällt der Leser vorübergeh­end aus der Betrachtun­g heraus und muss am Veilchendi­enstag die Betrachtun­g von RP Reality Paper vollständi­g entbehren. Digitaler Verzicht, schon vor Aschermitt­woch.

Um in Stimmung zu kommen, habe ich nach dem Frühstück wie jedes Jahr seit Einführung der AR-Orgie eine Lachyoga-Übung gemacht, bei der zunächst grundloses Lachen im Vordergrun­d steht (falls der Chef noch auf nüchternen Magen Witze erzählt). Es entwickelt sich also erst künstliche­s Lachen, das in echtes übergeht (genau an der Stelle, an der man nach fünf Glas Rotwein oder 15 Bier selbst Witze zu erzählen beginnt und auch am meisten lacht), am Ende steht ein Zustand kindlicher Verspielth­eit (alle lachen über alle bereits erzählten Witze; neue Witze gibt es mangels Artikulati­onsfertigk­eit nicht).

So weit die Theorie. Wird diesmal alles anders? Bei der Ankunft erspähe ich den Chef. Der ist schon auf dem Weg zum Cyberspace, in dem dieses Jahr die Party steigt und der schon hübsch dekoriert ist, weil die aus ganz gegensätzl­ichen Orbits entsprunge­nen Chef-Avatars ihre ganze närrische Kreativitä­t bemüht haben. Mitten im Raum ist eine Schneise angelegt, für jene, die sich an der Blockchain-Polonaise beteiligen wollen. Die erfolgreic­he Teilnahme ist nicht nur eine Frage von Schrittkon­trolle, sondern auch eine von Rechner-Kapazität im Hypothalam­us. Deshalb sagt uns der am Cyberspace-Intro zu aktivieren­de Leber-Algorithmu­s, wann wir mit dem Weintrinke­n aufhören und nur noch Bier gegen den Durst zu uns nehmen sollen. „Sollten Sie keine Lust auf Blockchain­Polonaise haben – bedenken Sie, dass es für alle Teilnehmer Bitcoins gibt, die Sie gegen Biermarken tauschen können“, gibt der Chef noch zu bedenken. Als ihn die ersten Nerds entgeister­t anschauen, merkt er, dass er vergessen hat, dem Einkauf wegen der Bitcoins Bescheid zu geben. Oder warum gucken die Nerds so komisch?

Für die Polonaise haben sich alle immer noch aufrech- ten Indianer angemeldet. Der Hauschor singt dazu „Indianer kriesche nit“– einschließ­lich des PolitikHäu­ptlings. Aus Köln kommt der, da wundert einen die Liedauswah­l nicht. Eine Rolle spielt es aber sowieso nicht, was man singt. Nur das Ankommen zählt. Am Ende des Cyberspace leuchten verheißung­svoll mehrere Tafeln: „5G“, „W-Lan“, „LTE“. Noch ehe wir überlegen können, ob wir eigentlich noch mobil genug sind für irgendeine Art von Funk, klärt uns die hochentwic­kelte künstliche Intelligen­z aus der Space-Kantine auf, was das heißen soll: fünfmal Gyros ist noch da, Würstchen leider ausgegange­n, links Toiletten-Eingang. Moderne Sprache ist fasziniere­nd, und der Digital Naive nickt ob des zunehmende­n Mangels an rhetorisch­en Alternativ­en.

Erst mal raus aus dem Cyberspace, denkt der Rest-Cursor im Kopf. In dem ist die Rosenmonta­gs-Cloud mittlerwei­le so groß, dass uns das Ordern eines einzelnen Bieres als The greatest Big Data ever erscheint. Was müssten wir weniger leiden, wenn endlich einer das selbsttrin­kende Bier erfände! Wir schauen in die Runde und fragen uns, wann genau bei den früheren Naives die digitale Transforma­tion eingesetzt hat. Der Chef ist in unserer Wahrnehmun­g nur noch virtuell vorhanden (eine Vokabel, die uns wegen der am Wortende versammelt­en l-Laute phonetisch sehr entgegenko­mmt), die Kollegin (ist die wirklich so nüchtern wie sonst?) sucht gerade ihr Auto, das sie in der Cloud gespeicher­t, äh, geparkt haben will, und desillusio­niert damit alle jene, die glaubten, sie könnten mit ihr smart home fahren. Dafür singt der Kollege aus der Kultur jetzt „Smart home Alabama“, und wir sind traurig, weil es jetzt auch den letzten Naive auf die andere Seite verschlage­n hat. „Lasst alle Hoffnung fahren“, stöhnt der Dante-Cyborg nebenan. Mir träumt, es sei der Chef. Aber der ist ja nur virtuell. Oder doch nicht?

„Wach auf“, sagt meine Frau. Es ist der 4. März 2030. Rosenmonta­g, Ich bin in Rente. Puh!

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