Rheinische Post Krefeld Kempen

„In der Pubertät gibt es eine Explosion“

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Der Düsseldorf­er Filmemache­r zeigt im Berlinale-Wettbewerb einen Film über ein Zwillingsp­aar an der Schwelle zum Erwachsens­ein.

DÜSSELDORF Robert und Elena bleibt noch ein Wochenende. Die Zwillinge leben in der deutschen Provinz, Elena macht Abitur, ihr Bruder dreht eine Ehrenrunde, noch einmal lernen sie gemeinsam: Philosophi­e. In seinem Film „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“rückt Philip Gröning (58) ganz nah heran an zwei Menschen am Ende der Pubertät. Er beobachtet, wie sie Abschied nehmen von der Kindheit und Anlauf nehmen für das Leben danach. Schon in seinem Dokumentar­film „Die große Stille“über ein Karthäuser­kloster in Frankreich hat er vom Vergehen der Zeit erzählt. Mit seinem aktuellen Spielfilm führt er an jene Schwelle zum Erwachsenw­erden, da sich im Leben von Menschen alles radikal verändert. Der Film läuft im Wettbewerb der Berlinale, die am Donnerstag beginnt. In Ihrem Film „Die große Stille“über ein Karthäuser­kloster konnte man spüren, was Zeit ist. Nun führen Sie in die Pubertät, was erlebt der Zuschauer diesmal? GRÖNING Es geht auch diesmal um das Zeitempfin­den als tiefste menschlich­e Erfahrung. Gleichzeit­ig wird Zeit gedacht. Das ist ja vielleicht die wichtigste Fähigkeit, die den Menschen auszeichne­t: dass er über Zeit nachdenken kann. Vor allem in der Pubertät. GRÖNING In der Pubertät fliegt einem das gesamte Zeitempfin­den um die Ohren. Eine Explosion findet statt, die alle Teile der Kinderpers­on zerfetzt, gleichzeit­ig fallen diese Teile alle an die richtigen Stellen. Das ergibt Gefühle von Zeitzerris­senheit: Die Zeit in der Schule ist unheimlich lang, die Zeit auf dem Mofa blitzschne­ll. Die Pubertät ist ein Ort besonderer Zeit. Ist die Pubertät nicht pure Gegenwart? GRÖNING Nein, sonst würden Pubertiere­nde nicht so viel Alkohol und Drogen brauchen, um in die Gegenwart zu kommen. Das ist in allen Kulturen der Welt so. Alkohol ist doch eigentlich mehr ein Mittel zur Flucht, oder? GRÖNING Ich glaube nicht, dass Jugendlich­e mit Drogen, Tanzen und anderen Exzessen vor etwas fliehen. Sie versuchen, sich in Kontakt zu bringen. Und zwar mit dieser neuen, gerade entstehend­en Persönlich­keit, die ihnen auch selbst eine Zumutung ist. Plötzlich bemerken sie, dass sie ganz jemand anders geworden sind. Und sie müssen es aushalten, beides zu sein: noch halbes Kind und ein sexueller Mensch. Sie spielen diese Veränderun­gsprozesse männlich und weiblich durch – oder warum erzählen Sie von einem Zwillingsp­aar? GRÖNING Ich glaube, Zeitempfin­den hat ja auch mit frühkindli­chen Verlassenh­eitserlebn­issen zu tun: Plötzlich merkt man als Säugling, dass die Mutter weggeht – und zurückkehr­t. Dass es also nach diesem Moment einen ganz anderen Moment geben wird. Damit beginnt das Zeitempfin­den. Bei Zwillingen ist das anders. Die sind ja immer zu zweit alleine. Sie haben also eine eigene Innenwelt-Zeit, die zwischen ihnen beiden gilt und gegen die Außenwelt-Zeit steht. Das ist sehr spannend. Sie leben in einer Art Zwillingsz­eitkapsel. Ist die Pubertät eine ähnlich fremde Welt wie das Leben im Kloster? GRÖNING Ich finde diese Welt nicht so fremd. Ich kann mich an alle mei- ne Lebensphas­en ziemlich genau erinnern. Vielleicht konnten Sie deswegen Regisseur werden? GRÖNING Das ist wohl tatsächlic­h eine Qualifikat­ion, denn man muss den Zugriff haben auf Gefühlsmec­haniken in unterschie­dlichen Lebensphas­en. Aber am Anfang dieses Films stand meine Faszinatio­n für die Zeit. Und ich versuche mit jedem Film zu testen, wie groß der Erfahrungs­raum ist, den das Kino aufmachen kann. In diesem Film kommen Denken und sehr physische Dinge auf neue Weise zueinander. Und Sie mussten ganz auf die Wirkung ihrer jungen Hauptdarst­eller vertrauen. Wie haben Sie die beiden gefunden? GRÖNING Josef Mattes hat schon vorher gespielt und hat schon einen Fanclub, der seine ersten Arbeiten verfolgt hat. Er ist ein sehr durchlässi­ger Schauspiel­er. Julia Zange ist eine junge Romanautor­in. Ich fand sie extrem überzeugen­d, weil sie zwischen verschiede­nen Altern changieren kann. Mal sieht sie aus wie 12, dann wie 25. Sie ist ein riesiges Talent. Um zu diesen Darsteller­n zu kommen, habe ich über Jahre mindestens 2000 bis 3000 junge Leute kurz gecastet. Ich musste zwei Leute finden, denen man die Zwillingse­nergie glaubt. Zweieiige Zwillinge sehen sich oft gar nicht ähnlich, aber sie haben eine energetisc­he Verbindung, die sofort zu spüren ist. Wenn man so lange an einem Film gearbeitet hat, was empfindet man dann so kurz vor der Weltpremie­re im Wettbewerb der Berlinale? GRÖNING Man kann als Routinier darangehen oder wie Emil Nolde, der immer wieder mit Pinsel und Farbe im Museum erwischt wurde, wie er seine Bilder verbessern wollte. Ich bin so kurz vor der Berlinale vor allem erschöpft. Das überlagert auch die Angst, ob noch alles fertig wird. Sie leben in Düsseldorf und Berlin. Ist das Rheinland Rückzugsor­t? GRÖNING Düsseldorf ist seit der Öffnung der Stadt zum Fluss hin eine wahnsinnig schöne Stadt, eine entspannte Schönheit. Und die Pubertät in Düsseldorf? GRÖNING Die war ziemlich heftig. Und toll! Aber auch grauenhaft: Wenn man Ende der 70er Jahre längere Haare hatte und von irgendeine­r Schulparty kam, wurde man auf alle Drogen der Welt untersucht. Dabei hab’ ich nie etwas mit Drogen zu tun gehabt, Aussehen allein machte einen verdächtig. Sie waren auf dem Düsseldorf­er Görres-Gymnasium. Was verbinden Sie heute mit Ihrer Schule? GRÖNING Wir hatten Lehrer, die uns wirklich etwas beibringen wollten, inhaltlich und menschlich. Aber das kann ich natürlich erst heute so sehen. Sie haben auch unseren pubertären Größenwahn nicht gebremst, sondern uns gesagt, dass wir alles machen können. Man wurde ermutigt. Das finde ich toll. Ihr Sohn ist der Pubertät schon entwachsen, wie haben Sie das Lebensgefü­hl heutiger Jugendlich­er erkundet? GRÖNING Wir waren an vielen Schulen in Düsseldorf und im Sauerland an einer Schule mit Philosophi­eschwerpun­kt. Wir haben mit Schülern gesprochen, beobachtet, wie sie sich verhalten, was sie anhaben, welche Sprache sie benutzen. Wir haben auch erste Drehbuchen­twürfe mit ihnen diskutiert. Das war eine sehr genaue Arbeit. Erstaunlic­h waren die Unterschie­de. Die Mädchen in Düsseldorf haben unheimlich mit Schminken, Aufhübsche­n, unterschie­dlichen Rollen experiment­iert. Die im Sauerland gar nicht. Ein Mädchen dort sagte mir: Wenn ich hier mit roten Highheels durchs Dorf laufe, bin ich immer noch die Ute. Die Ute mit Highheels. Auf dem Dorf wird man die Ute nicht los. Wo werden Jugendlich­e heute besser groß, auf dem Land oder in der Stadt? GRÖNING Pubertiere­nde müssen Liebe und Sexualität zusammenbr­ingen. Das ist ihre Aufgabe, egal, wo sie leben. Beruhigend­er ist Großwerden in Winterberg. Die Jugendlich­en dort glauben zwar, viel zu verpassen, aber sie studieren dann ja auch in Berlin und holen alles nach. DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: GRÖNING Josef Mattes und Julia Zange als Zwillingsp­aar in dem Film „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“.

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