Rheinische Post Krefeld Kempen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Natürlich hielten sie sich nicht ausschließ­lich in der Diele auf, sondern durchschri­tten wie alle anderen Besucher den von Büchern gesäumten Flur auf ihrem Weg zu den übrigen Räumen, aber meine Erinnerung­en an sie sind mit ihrer Ankunft verknüpft, mit ihrer Ankündigun­g, dass sie eingetroff­en seien, und mit der Art und Weise, wie sie begrüßt wurden.

Meine Großtante Sara und ihr Mann Steve etwa gehören für mich in die Diele. Sie verbrachte­n Jahrzehnte damit, Kindergesc­hichten aus aller Welt zu sammeln und in einer herrlichen Reihe von Bänden mit Titeln wie Stories for Five-YearOlds, Stories for Six-Year-Olds und so weiter herauszuge­ben. Bei jedem Besuch war Sara, die wie ihre ältere Schwester Mimi glaubte, dass man zu jedem gesellscha­ftlichen Anlass etwas zu essen mitbringen müsse, mit Kuchen und anderen Leckerei- en beladen, die sie in ihrem funzelig beleuchtet­en Haus zubereitet hatte, bevor die beiden zum Hillway aufbrachen. Steve hatte stets neue Witze auf Lager, dazu prägnante Kommentare – geradezu Aphorismen – über die Weltpoliti­k. Außerdem hatte er Zeitungsau­sschnitte dabei, die säuberlich gefaltet in den Taschen einer seiner braunen Tweed- oder grauen Sportjacke­n verstaut waren; kaum hatte er die Türschwell­e überschrit­ten, zog er auch schon feierlich die Ausschnitt­e hervor, um sich mit Chimen und mir darüber auszutausc­hen. Steve hatte in seiner Jugend an Tuberkulos­e gelitten und blieb sein Leben lang spindeldür­r; er machte den Eindruck eines nervösen Energiebün­dels, das mit scharfem Blick alles und jeden beobachtet­e und einschätzt­e. Die beiden kamen häufig vorbei, doch oftmals nur auf einen Sprung, denn Steve schien rasch zu ermüden. Er steuerte für gewöhnlich das Esszimmer an, wo er sich auf einem Sessel- rand niederließ. Dann nippte er schnell und nervös an einem kleinen Brandy. Sobald seine Witze erzählt und seine Zeitungsau­sschnitte gelesen waren, verfiel er meist in ein mürrisches Schweigen und machte sich fast nur noch durch seine hin und her huschenden Augen bemerkbar. Bald darauf pflegten sich die beiden zu verabschie­den.

Tag für Tag stiegen Scharen von Besuchern die mattroten Ziegelstuf­en zur Tür hinauf, ihre Hände auf dem wackeligen Holzgeländ­er. Wenn sie das Haus im Hillway betraten, fiel ihr Blick als Erstes auf die Bücher in der Diele. Die dünnen Taschenbuc­h-Biografien bedeutende­r Männer. Die gewichtige­n sozialisti­schen Fachenzykl­opädien. Die diversen Erstausgab­en von Geschichts­werken und Romanen. Wären die Besucher lange genug in der Diele stehen geblieben, um den einen oder anderen Band aus den Regalen zu nehmen, hätten sie eine vollständi­ge zweite Bücherreih­e hinter der vorderen entdeckt. Dort standen viele Studien über die gescheiter­ten europäisch­en Revolution­en von 1848 – dem Jahr, in dem Marx und Engels das Kommunisti­sche Manifest veröffentl­ichten –, darunter eine von Alexandre-Auguste Ledru-Rollin, der eine führende Rolle bei der Erhebung in Frankreich gespielt hatte. Daneben konnte man Bände über die Pariser Kommune von 1871 entdecken, ebenso wie einige seltene Erstausgab­en über die österreich­ische Sozialdemo­kratie und Bücher von Karl Kautsky, der vor dem Ersten Weltkrieg weithin als einer der führenden marxistisc­hen Theoretike­r seiner Epoche gegolten, sich jedoch nach 1917 leidenscha­ftlich gegen die bolschewis­tische Revolution ausgesproc­hen hatte. Er starb 1938 als alter, gebrochene­r Emigrant in Amsterdam; seine Frau kam ein paar Jahre später in Auschwitz um.

(Fortsetzun­g folgt)

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