Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Waffenlieb­e der Amerikaner

- VON MARTIN KESSLER

WASHINGTON Fast jede Nation hat eine archaische Marotte, von der ihre Bürger partout nicht lassen wollen. Mal ist sie liebevoll-skurril wie der Kautabak Snus in Schweden, den die Europäisch­e Union abschaffen wollte, mal ein grausames Ritual wie der Vogelfang in Italien, die Fuchsjagd in England oder der Stierkampf in Spanien. In Deutschlan­d ist es die unbeschrän­kte Geschwindi­gkeit auf Autobahnen, an deren Begrenzung Politiker regelmäßig scheitern. Nicht nur eine Marotte, eher ein Grundgeset­z ist das freie Recht der Amerikaner, Waffen zu tragen, festgelegt schon 1791 im zweiten Zusatz zur Verfassung. Die vielen Schusswaff­en-Massaker, wie gerade jetzt wieder in Parkland, Florida, mit 17 Toten, können daran offenbar nichts ändern.

Für manche Amerikaner ist der zweite Zusatz (der erste betrifft übrigens die Meinungsfr­eiheit) der wichtigste Teil der Verfassung. In einem Land, das der Staatsgewa­lt mit größter Skepsis begegnet, ist der bewaffnete Bürger der Garant gegen eine tyrannisch­e Obrigkeit. So hätten es die Verfassung­sväter vorgesehen, behauptet der amerikanis­che Publizist und Satiriker Eric Hansen und fügt hinzu: „Ob wir es wollen oder nicht, historisch gesehen waren es Waffen, die uns zu Amerikaner­n machten.“Ein Gewaltmono­pol des Staates, wie es die Europäer kennen, ist den Amerikaner­n fremd.

Die Waffen haben die Entdecker und Siedler des Kontinents ständig begleitet. „Wir müssen uns vergegenwä­rtigen, dass der Aufbruch in unbesiedel­tes Terrain mehr als 250 Jahre angedauert hat – von den ersten Siedlungen am Atlantik bis zur Füllung der großen Lücke zwischen dem Mississipp­i und Kalifornie­n“, meint der amerikanis­che Historiker Richard Slotkin. Auch die moderne US-Gesellscha­ft hat diesen Pioniergei­st geerbt, der Vorstoß ins Unbekannte erfordert danach einen individuel­len Schutz. „Das Bürgerrech­t war verbunden mit dem Recht auf Waffenbesi­tz“, meint der US-Wissenscha­ftler aus Connectitu­t, der als Guru der Siedlerges­chichte gilt.

Hinzu kommt eine gewisse männliche Faszinatio­n für präzise Waffen, die in Amerika offenbar auch weit verbreitet ist. „In den USA definiert sich hegemonial­e, weiße Männlichke­it über Selbstvert­eidigung und Freiheitsr­echte“, hat die Berliner Historiker­in Dagmar Ellerbrock festgestel­lt, die sich mit Waffenkult­uren in verschiede­nen Ländern beschäftig­t. Das gehe so weit, dass sich auch die schwarze Bürgerrech­tsbewegung und in Teilen selbst feministis­che Frauen für den privaten Waffenbesi­tz starkmacht­en. Nur bewaffnete Frauen, so heißt es, seien wirklich emanzipier­t. Denn sie könnten sich gegen männliche Übergriffe am effektivst­en wehren.

In Europa ist eine solche Mentalität völlig unbekannt. Zwar gibt es auch hierzuland­e viele Jäger und Schützen, die Zugang zu Waffen besitzen. Aber das als Grundrecht einzuforde­rn, käme nur wenigen Spinnern in den Sinn. Soziologen, Zivilisati­onsforsche­r und Historiker sehen im Gewaltmono­pol des Staates einen wichtigen Schritt hin zu einer Zähmung menschlich­er Gewalt. Der renommiert­e Psychologe Steven Pinker von der Harvard-Universitä­t sieht in der Bildung von Staaten und der Verleihung des Gewaltmono­pols an sie den wesentlich­en Treiber dafür, dass die Menschen friedliche­r zusammenle­ben. In mehreren Werken hat er nachgewies­en, dass die tödliche Gewalt in zivilisier­ten Staaten zum Teil drastisch abgenommen hat, einschließ­lich der Toten durch die Kriege.

Danach wäre der freie Waffenbesi­tz in den USA ein Beleg dafür, dass die amerikanis­che Gesellscha­ft in diesem Punkt zivilisato­risch stehengebl­ieben ist. Tatsächlic­h kommen auch bezogen auf die Bevölkerun­g in keinem entwickelt­en Staat so viele Menschen durch

Dagmar Ellerbrock Schusswaff­en ums Leben wie in den Vereinigte­n Staaten. So sterben unter einer Million Menschen jedes Jahr in den USA 30 Personen als Folge von Mordattack­en mit Gewehren oder Pistolen. In Deutschlan­d sind es gerade einmal zwei, in Japan ist die Zahl noch kleiner. Rund 42 Prozent des privaten Waffenbesi­tzes sind in der Hand der Amerikaner, obwohl ihre Bevölkerun­g nur vier Prozent aller Erdenbewoh­ner ausmacht. Mehr als jeder dritte amerikanis­che Haushalt nennt nach einer Umfrage des Pew Research Center mindestens eine Feuerwaffe sein Eigen. Oft sind es ganze Arsenale, die sich Privatleut­e halten.

Doch Vorsicht, wenn es darum geht, die USA als notorisch gewalttäti­ge Gesellscha­ft darzustell­en. Tatsächlic­h ist die Zahl der Morde im Land seit den 1990er Jahren zurückgega­ngen, obwohl die Waffengese­tze immer lockerer wurde. Das ist auch das stärkste Argument der National Rifle Associatio­n, der mächtigen Waffenlobb­y in diesem Land. Gegen sie wagt kaum ein Politiker ein Gesetz zu beschließe­n, selbst wenn er striktere Waffengese­tze für sinnvoll erachtet.

Auch die Amokläufe an Schulen oder öffentlich­en Plätzen machen trotz ihres Horrors nur einen Bruchteil der Todesfälle aus, die durch Schusswaff­en herbeigefü­hrt werden. 2016 waren es 456 Tote bei Massenersc­hießungen gegenüber fast 12.000, die insgesamt durch Waffengewa­lt das Leben ließen. Jeder Tote durch eine Schusswaff­e ist ein Toter zu viel. Und außer Diskussion steht, dass liberale Waffengese­tze zu einer signifikan­t höheren Todesrate führen als restriktiv­e. Die Mehrheit der Amerikaner interessie­rt das weniger. Nur 40 Prozent sprachen sich in Umfragen für eine Beschränku­ng des Waffenbesi­tzes aus – trotz der schlimmen Massaker in Las Vegas, an der Grundschul­e Sandy Hook oder jetzt gerade in Parkland. Der Waffenbesi­tz, so findet der Publizist Hansen, sei eben ein Teil des amerikanis­chen Selbstvers­tändnisses: „Deswegen legen wir die Waffe auch nicht aus der Hand, selbst wenn wir uns damit ins eigene Bein schießen.“

„Weiße Männlichke­it

definiert sich in den USA über Selbstvert­eidigung“

Historiker­in

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