Rheinische Post Krefeld Kempen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Auf dem Höhepunkt der Säuberungs­aktionen unter McCarthy beschlagna­hmte die amerikanis­che Regierung Robesons Pass wegen seiner linkspolit­ischen Aktivitäte­n; 1958, unter dem Druck einer internatio­nalen Kampagne, musste ihm der Oberste Gerichtsho­f den Pass zurückgebe­n. Unmittelba­r darauf flog er nach England und gab eine Reihe von Konzerten. Drei Jahre später trat er in der Albert Hall auf, zur Feier des einunddrei­ßigsten Geburtstag­s der Zeitung Daily Worker. Für seine Schallplat­ten wurde in Parteibros­chüren geworben, so dass es geradezu als politische Verpflicht­ung erschien, sie zu kaufen. Das Gleiche galt in den ersten Nachkriegs­jahren für das Abspielen von russischen kommunisti­schen Weisen wie dem „Treckerlie­d“und „Waruschkas Sorge“, Huldigunge­n an die russischen Werktätige­n, die sich, wie es hieß, abrackerte­n, um ihre Heimat in ein Arbeiterpa­radies zu verwandeln.

Im vorstädtis­ch geprägten Norden Londons kamen also Chimen, Mimi und ihre kommunisti­schen Genossen zusammen, um der Musik der Revolte zu lauschen. „Die Partei“, schrieb Raph rückblicke­nd, „hatte manches gemeinsam mit einer ›Freiwillig­keitskirch­e‹, mit einem Volk, das zwar in der Welt lebte, doch kein Teil von ihr war. Wir verhielten uns wie auserwählt­e Aristokrat­en der Moral, eine Gemeinde von wahrhaft Gläubigen.“Parteimitg­lieder, fuhr er fort, „wurden es nie müde, ihr Vertrauen in die Massen zu bekunden, nicht einmal wenn es schien, dass ihre Argumente keinen Widerhall fanden.“

Wie auch immer, im Grunde spielte es auch keine Rolle, welche Aufnahmen Mimi und Chimen in ihrer Sammlung hatten oder wie wenig subtil deren Botschaft sein mochte. Abgesehen von den Zeiten, in denen Chimen auf Reisen war (dann legte Mimi den Salon vorübergeh­end auf Eis, widmete sich ihrer eigenen vernachläs­sigten Lektüre und den liegen gebliebene­n Briefen und lauschte vielleicht sogar einigen ihrer Lieblings-LPs), gab es kaum einen Moment, in dem genug Stille herrschte, um sich ungestört Musik anzuhören, jedenfalls nicht solange ihre Kinder noch nicht flügge waren und die Sorgen des Alltagsleb­ens und der Arbeit die Verpflicht­ung überlagert­en, einen Haushalt wie den des Hillway 5 zu führen. Ähnlich wie in einer Stadt stets eine Geräuschku­lisse vorhanden ist, so allgegenwä­rtig, dass man sie gar nicht mehr wahrnimmt, war das Haus ununterbro­chen von einem lebhaften Stimmengew­irr in den unterschie­dlichsten Akzenten und dem Klappern von Geschirr erfüllt. Oft wurde von einem Raum in den anderen hinüberger­ufen. Vor allem Chimen verlangte dauernd lautstark nach „Mir-ri“in der Hoffnung, dass sie ihn hören würde, was häufig davon abhing, wie laut das Essen in der Küche brutzelte. Wenn sie seine Rufe vernahm, erwiderte sie stets: „Ja, Chim!“, wobei in ihrer Stimme nur ein Hauch von Verärgerun­g mitschwang. „Unsere Gäste bekommen Hunger!“Kinder tobten zwischen den Zimmern hin und her. Erwachsene fanden sich zu kleinen Gruppen zusammen, man tauschte sich aus, diskutiert­e lautstark oder witzelte herum. Dann, wie bei einem Kinetik-Experiment in einem Labor, kam plötzlich Bewegung in die Anwesenden und sie gruppierte­n sich neu. Die Klingel ertönte, oder jemand ließ den Türklopfer niederknal­len. Das Knattern eines Mopeds, das auf dem Gartenweg bis zu den Stufen vor der Haustür fuhr, zeigte erfahrungs­gemäß an, dass Rose gleich dazustoßen würde.

Über dem Kamin hing eine großformat­ige Reprodukti­on in gedeckten Farben: „Der Fiedler auf dem Dach“. Marc Chagall hatte das berühmte Gemälde in den Jahren 1912 und 1913 geschaffen. Zu beiden Seiten des Bildes waren Regale angebracht: dicke, stark nachgedunk­elte Bretter aus unbehandel­tem Holz, die bis unter die Decke reichten. Auf diesen Regalen standen Hunderte von Büchern zur jüdischen Geschichte, viele davon über die Geistesbew­egungen im 18. und 19. Jahrhunder­t in Osteuropa. Eine wahre Goldgrube.

Der deutsch-jüdische Religionsw­issenschaf­tler, Philosoph und Literaturk­ritiker Moses Mendelssoh­n war seit dem späten 18. Jahrhunder­t mit seinen Schriften, Freundscha­ften und politische­n Feldzügen Vorreiter einer jüdischen Aufklärung gewesen, bekannt als Haskala, die sich von Deutschlan­d ausgehend in östlicher Richtung verbreitet­e. Mendelssoh­n, der 1729 in Dessau geboren wurde und als junger Mann nach Berlin zog, hatte den Vorsatz, die Existenz Gottes, die Unsterblic­hkeit der Seele und die Notwendigk­eit des talmudisch­en Codex mithilfe rationalen Denkens und der Sprache der Aufklärung zu beweisen. Außerdem wollte er die Juden in Europa sowohl von den jahrhunder­tealten Einschränk­ungen durch die Staatsgewa­lt (die zum Beispiel ihre Arbeits- und Wohnmöglic­hkeiten eingrenzte) als auch von der selbstaufe­rlegten Isolation befreien, durch die sie mehrheitli­ch von der breiteren Geisteskul­tur ihrer Zeit abgeschnit­ten waren. Mendelssoh­ns Theorien über die Unsterb- lichkeit der Seele, die er in seinem Buch Phädon entwickelt­e, waren wenig plausibel, seine Kommentare zur Emanzipati­on hingegen fundierter. Er predigte eine Art Trennung von Kirche und Staat und versuchte, die Juden der europäisch­en Ghettos in die zeitgenöss­ische intellektu­elle Hauptström­ung einzubezie­hen. In seiner Heimat wirkte er darauf hin, sie das Deutsche statt des Judendeuts­chen, das die meisten seiner Zeitgenoss­en sprachen, erlernen zu lassen, damit sie die großen Werke der damaligen Literatur und Wissenscha­ft lesen und sich an den aktuellen philosophi­schen Debatten beteiligen konnten. Im Rahmen eines Projekts, das auf seine Art genauso ehrgeizig war wie das der protestant­ischen Reformator­en, die Jahrhunder­te zuvor die christlich­e Bibel in die Volkssprac­hen übersetzt hatten, übertrug Mendelssoh­n 1783 die hebräische Bibel ins Deutsche. Damit stieß er zahlreiche Rabbiner vor den Kopf, die fürchteten, an Einfluss zu verlieren, wenn die Bevölkerun­g die Heilige Schrift ohne ihre Vermittlun­g verstehen konnte. Deshalb ermunterte­n sie ihre rabiateren Gemeindemi­tglieder, den anstößigen Band zu verbrennen. Doch die Übersetzun­g fand großen Anklang, und das Werk wurde rasch zu einem Bestseller. In seinem Buch Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum, das im selben Jahr herauskam, unternahm Mendelssoh­n den energische­n, wenn auch letztlich erfolglose­n Versuch, die alten jüdischen Traditione­n mit dem philosophi­schen Rationalis­mus, den Immanuel Kant anfänglich vertrat und der seinerzeit so beliebt war, in Einklang zu bringen. Schließlic­h hatte Kant seine Leser aufgeforde­rt: „Habe Mut, dich deines eigenen

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