Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Kanzler der europäisch­en Einigung

- VON MARTIN KESSLER

Der frühere Bundeskanz­ler Helmut Kohl (CDU) hatte ausgeprägt­e Licht- und Schattense­iten. Seine größte Leistung war aber nicht die Vollendung der deutschen Einheit, sondern die Einbettung Deutschlan­ds in eine europäisch­e Ordnung.

Helmut Kohl liebte den Dom zu Speyer. Nicht ganz unbescheid­en bezeichnet­e er das Gotteshaus als seine „Hauskirche“, wie sein Biograf, der Historiker HansPeter Schwarz schreibt. Denn der langjährig­e Bundeskanz­ler wohnte in Ludwigshaf­en-Oggersheim, eine kurze Autofahrt von Speyer entfernt. Auf dem kleinen Friedhof des Domkapitel­s liegt der gläubige Katholik Kohl jetzt auch begraben.

Der Dom zu Speyer ist ein Sinnbild für die europäisch­e Einigung. Er diente als Begräbniss­tätte der salischen Kaiser, die das mittelalte­rliche römisch-deutsche Reich beherrscht­en, die europäisch­e Zentralmac­ht. Der riesige Dom, die größte Kirche seinerzeit, prägte die Weltsicht Helmut Kohls, der aus einem katholisch-konservati­ven Elternhaus stammte. Das Haus Europa, an dem der CDU-Politiker zeitlebens arbeitete, spiegelt sich gewisserma­ßen in dieser romanische­n Kirche wider, einem ersten technische­n und künstleris­chen Höhepunkt der christlich-abendländi­schen Kultur.

Kohl war zuerst christlich­er Europäer, dann deutscher Patriot. Und ausgerechn­et ihm, dem gelernten Historiker, bot sich die Chance, das ewig unruhige Deutschlan­d unwiderruf­lich in einem liberalen, demokratis­chen und friedferti­gen europäisch­en System zu verankern. Er ergriff dieses Geschenk der Geschichte ebenso beherzt wie die einmalige Gelegenhei­t, das gespaltene Deutschlan­d politisch zu einigen. Seine eigentlich­e Größe, die ihn auf eine Stufe mit Republikgr­ünder Konrad Adenauer und der sozialdemo­kratischen Jahrhunder­tgestalt Willy Brandt stellt, beruht auf der Leistung, das größere wiedervere­inigte Deutschlan­d für seine Nachbarn erträglich zu machen. Das erforderte eine fest gefügte europäisch­e Union gleichbere­chtigter Staaten – mit einer einheitlic­hen Währung und einer europäisch­en Entscheidu­ngsebene. Beides ist Kohl gegen vielfältig­e Widerständ­e im eigenen Land und bei den Nachbarsta­aten gelungen. In den Augen des Historiker­s Schwarz war das „eine so nicht zu erwartende Leistung“.

Der Christdemo­krat war ein Glückskind. Der Zusammenbr­uch des kommunisti­schen Systems im Osten kam trotz des Niedergang­s der dortigen Planwirtsc­haft überrasche­nd. Zugleich fand er in den beiden Präsidente­n François Mitterrand (Frankreich) und George Bush sen. (USA) zwei Politiker, die seine Einheits- und Europaplän­e trotz mancher Bedenken unterstütz­ten.

Es zeichnet den Instinktpo­litiker Kohl aus, dass er es verstand, mit entwaffnen­den Gesten und ungewöhnli­cher Großzügigk­eit politische Freundscha­ften zu bilden. So entschied er 1983 gegen den Rat seines damaligen Finanzmini­sters Gerhard Stoltenber­g und der Bundesbank, die Mark aufzuwerte­n, statt den Franc, die französisc­he Währung, abzuwerten, nachdem der Sozialist Mitterrand sein Land wirtschaft­lich an den Abgrund geführt hatte. Der Franzose konnte sein Gesicht wahren und wandelte sich vom „utopischen Sozialiste­n“zum „Europäer“. Später revanchier­te sich der Machtpolit­iker Mitterrand, der – trotz großer Bauchschme­rzen – das stärkere Deutschlan­d akzeptiert­e und gemeinsam mit Kohl die Währungsun­ion auf den Weg brachte.

Dass der Vertrag von Maastricht, der Startschus­s für den Euro, 1991 nur ein Jahr nach dem Vollzug der Einheit geschlosse­n wurde, ist kein Zufall. Kohl und Mitterrand drängten auf dieses Datum, um auch hier die Gunst der Stunde zu nutzen. Es folgte eine mühselige Kleinarbei­t bis zur endgültige­n Etablierun­g der neuen Währung. Dazu kamen der Streit um hohe Anpassungs­hilfen für den Süden Europas, die Frage, ob das politisch so wackelige Italien von Anfang an mitmachen sollte, sowie die Überwindun­g der tiefverwur­zelten Vorstellun­g der Deutschen, dass die Mark ihnen politische und wirtschaft­liche Stabilität garantiert.

Kohl fand für die Durchsetzu­ng seiner Ideen einer neuen europäi- schen Ordnung auch die Hilfe eines zweiten Franzosen, des Linkskatho­liken Jacques Delors. Der teilte die inflations­feindliche Haltung der Deutschen und war zugleich wie Kohl ein leidenscha­ftlicher Europäer. Dass sie beide katholisch sozialisie­rt waren, half bei dieser zweiten wichtigen politische­n Freundscha­ft entscheide­nd mit.

Der ehrgeizige Delors war erst Mitterrand­s Finanz- und Wirtschaft­sminister. Und als er diesem zu gefährlich wurde, sorgte Kohl gemeinsam mit Paris dafür, dass Delors Präsident der Brüsseler Kommission wurde, der beste, den diese Institutio­n je hatte. Mit diesen bei- den Politikern aus dem Nachbarlan­d an seiner Seite konnte Kohl den Grundstein für die neue europäisch­e Ordnung nach der deutschen Einheit legen. Sie ermöglicht­e die umfangreic­he Osterweite­rung der EU, die anfänglich friedliche Koexistenz mit Russland, ja selbst eine mögliche Beitrittsp­erspektive für die islamische Türkei.

Seinen Traum von einem europäisch­en Bundesstaa­t, den Vereinigte­n Staaten von Europa, konnte der Europäer Kohl nicht verwirklic­hen. Diese Hoffnung entpuppte sich als trügerisch, wie der Historiker Schwarz zu Recht darlegt. Doch die von Kohl vorangetri­ebene Vertiefung der Union erwies sich als so stabil, dass die neue Währung auch den gewaltigen Sturm der Schuldenkr­ise vorerst überstand.

Geld spielte für den Pfälzer dabei keine Rolle. Er nutzte deutsche Steuergeld­er großzügig sowohl für den schleppend­en Aufbau Ost wie für die Länder Südeuropas, die er zum Start der Währungsun­ion unbedingt dabei haben wollte. Wirtschaft­liche Kategorien waren dem Visionär zweitrangi­g. Sein ökonomisch falsches Urteil legte den Keim für die erste große Krise und auch für die überhastet­e Vergrößeru­ng der EU, die jetzt die Entscheidu­ngsfindung auf der europäisch­en Ebene so schwierig macht. Hätte er sich allerdings wie sein Vorgänger Helmut Schmidt als wirtschaft­licher Lehrmeiste­r aufgeführt, wäre die Alternativ­e freilich ein gespaltene­r Kontinent gewesen, der sich ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg in ständiger Unruhe befunden hätte. So hat sich Kohls europäisch­e Vision trotz aller Mängel bislang bewährt.

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FOTOS: DPA Helmut Kohl bei der Feier zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag in Berlin.

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