Rheinische Post Krefeld Kempen
Der Feuerkopf
Matthias Sammer gehört sicher nicht zu den Schmusebären im Fußball. Nun soll er Borussia Dortmund Impulse geben.
DORTMUND Es ist ein Bild wie aus einem Wikinger-Film. Aber es stammt aus einem Fußballspiel. Ein Mann brüllt mit weit aufgerissenen Augen und einer blutenden Wunde auf der Stirn abwechselnd Kollegen, Gegenspieler und Schiedsrichter an. Dann lässt er sich widerwillig zum Spielfeldrand führen. Dort tackern sie seine Wunde, als wenn ein paar Bögen Papier zusammengeheftet würden. Mit den Blutflecken auf dem gelben Trikot läuft der Spieler wieder aufs Feld.
Das Bild ist aus dem Jahr 1994, es wurde bei einem Bundesligaspiel auf dem Mönchengladbacher Bökelberg aufgenommen. Und der Mann mit der getackerten Wunde ist Borussia Dortmunds Abwehrspieler Matthias Sammer, der 24 Jahre später als Berater den BVB wieder in die Nähe der einstigen Klasse führen soll. Die ganze Leidenschaft, die dieser Mann in den Sport zu stecken verstand, ein Stückchen Wahnsinn sogar, bewahrt sich in diesem Bild.
Da ist einer, der sich nicht aufhalten lässt, von den Zufällen des Spiels nicht, von den scheinbaren Gesetzen nicht, von Rückschlägen nicht und schon gar nicht von sich selbst. Deshalb wurde Matthias Sammer ein großer Fußballer, ein erfolgreicher Trainer und ein einflussreicher Funktionär.
Bis vor knapp zwei Jahren. Da schien ihn das System zu fressen, in dem er sich mit seiner ganzen Wut bewegte. Eine Durchblutungs-Erkrankung im Hirn zwang ihn, den Job als Sportvorstand des FC Bayern München aufzugeben. Er zog sich ins Private zurück. Zu seinem 50. Geburtstag im vergangenen Jahr verriet er: „Fußball ist nicht mehr alles in meinem Leben.“Aber er hielt sich schon in diesem Moment wieder alle Türen offen. „Ich würde es vermissen, wenn der Fußball als Teil meines Lebens nicht mehr stattfinden könnte“, sagte er. Der Fußball wird wieder ein großer Teil seines
Als der Fußball-Kaiser noch öffentliche Reden hielt, da sprach er auch einmal über seinen „guten Freund Christian Streich“. Den Christian Streich, sagte Franz Beckenbauer, „den kenn ich gut, das ist ein Verrückter. Der tanzt am Spielfeldrand wie das Rapunzel“. Auch wenn dem Kaiser ein paar Märchenwesen durcheinander gingen und er wohl das Rumpelstilzchen meinte, stimmte das mit den wilden Tänzen am Spielfeldrand natürlich. Vergangene Woche führte Freiburgs Trainer einen seiner Veitstänze in der Schalker Arena auf. Sein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl war massiv getroffen, weil Schiedsrichter Tobias Stieler seinen Spieler Nils Petersen zu Unrecht vom Platz Lebens sein. Das steht fest, seit ihn die Dortmunder zurück in den Klub geholt haben.
Schon vorher hatte Sammer beim TV-Sender Eurosport einem größeren Publikum vorführen können, dass er sich nicht nur mit klaffenden Wunden in fußballerische Auseinandersetzungen zu werfen ver- stand, sondern dass er auch in der Lage ist, selbst weniger Eingeweihten die (taktischen) Geheimnisse des Spiels zu enthüllen. Er unterschied sich in der Rolle des Analysten wohltuend von der Armada aus Schlaumeiern, die sich in Studios und an Stammtischen gewöhnlich wichtig tun. Sammer sezierte die gestellt hatte. Selbst einer ganzen Reihe freundlicher Mitmenschen gelang es nur mit größter Mühe, den Trainer von einem Akt der Selbstjustiz abzuhalten. Der Lohn: Streich musste auf die Tribüne.
Es ehrt ihn sehr, dass er mit dem Abstand einiger Tage und in entsprechender Milde einräumte, seine Strafe sei gerecht. Auch das zeichnet den gelegentlich so wilden Mann aus dem Breisgau aus. Er ist durchaus zur Selbstkritik in der Lage, und er schaut nicht nur in den weltpolitischen Betrachtungen, die er zur Freude seiner Zuhörer immer wieder in seine Pressekonferenzen mischt, weit über den Tellerrand des Fußballgeschäfts hinaus. Deshalb mögen ihn die meisten – sogar jene, Spiele kühl und kenntnisreich. Das Posieren überließ er anderen.
In Dortmund mangelt es seit einiger Zeit erkennbar an derart nüchterner und sachgerechter Analyse. Das hat selbst Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke erkannt, der große Verdienste um die Sanierung des Klubs nach dessen Beinahepleite 2005 erworben hat, aber vor allem in Fragen der Trainerverpflichtungen nach Jürgen Klopp grobe Fehler machte. „Wir benötigen einen wie Matthias Sammer“, erklärte Watzke, „seine Analyse-Fähigkeit, seine Leidenschaft, seine Identifikation, seinen klaren Blick von außen.“
Dabei spielte es offenbar eine weniger große Rolle, dass sich Sammer und sein ehemaliger Klub mächtig auseinandergelebt haben, seit der ehemalige Weltklassespieler als BVB-Trainer 2004 gehen musste. Dass er als Funktionär ausgerechnet beim FC Bayern landete und sich ausgerechnet im ehemaligen Westfalenstadion hitzige Debatten mit Dortmunds Coach Klopp lieferte, machte ihn bei den BVB-Fans zum großen Buhmann. Doch davon will Watzke nichts (mehr) wissen. „Wir haben uns sukzessive angenähert“, beteuerte der Geschäftsführer.
Den Eindruck nährt Sammer ebenfalls. „Ich hatte mit Aki Watzke vor einem Jahr das erste Mal wieder Kontakt“, sagte Sammer, „und ich hatte das Gefühl, er reicht mir die Hand. Wir haben die Themen dann aufgearbeitet und konnten wieder vertrauensvoll über Inhalte reden. Es kam der Zeitpunkt, an dem wir gesagt haben, wir brauchen jemanden von draußen, der Impulse gibt, um gewisse Dinge in die richtige Richtung zu bringen – das war ich.“So schnell wird aus dem Lieblings- die nicht immer so genau verstehen, was Streich in der Mundart seiner Heimat gerade von sich gegeben hat. Es reicht schon, dass er über die schlimmen Auswüchse im Profifußball ebenso wortreich zu klagen weiß wie über die schrecklichen Dinge, die sich auf der Welt zutragen.
Streich ist ein nachdenklicher Mensch. Das jedenfalls ist der Eindruck, den jeder erhält, der ihn unter der Woche erlebt. Am Spieltag aber gewinnt der wilde Tänzer die Oberhand über den nachdenklichen Trainer. Streich erleidet regelrechte Tobsuchtsanfälle. Und das Gesicht, das er dann präsentiert, passt so gar nicht zum eigenen Anspruch, in einem manchmal fürch- feind der jüngeren Vergangenheit ein Mann für die Zukunft.
Schon rätselt das Dortmunder Umfeld, wie Sammer „von draußen“richtige Impulse geben kann. Vermeintliche Kenner glauben, dass Sammer womöglich bis in die Kleiderordnung beim Training und bei öffentlichen Auftritten mitreden werde. Er habe in dieser Hinsicht auch in München Erfolge gehabt, heißt es aus diesen Kreisen. „Seine Rolle bei Bayern war dominanter, als wir das hier wahrgenommen haben“, urteilte Watzke frohen Mutes.
Tatsächlich scheint es, als habe Sammer in München vorwiegend für demonstrativ schlechte Laune viel Geld verdient. Er fühlte sich als Mahner, wenn er nach einem 9:2 gegen den Hamburger SV die Gegentore beklagen konnte. Klopp höhnte: „Ich glaube nicht, dass Bayern einen Punkt weniger hätte, wenn Sammer nicht da wäre.“In München war Sammer der sprichwörtliche Motzki für die Medien. Das wird in Dortmund nicht reichen.
Die Verwandlung des Christian Streich Der Freiburger Trainer ist durchaus zur Selbstkritik und zum Weitblick in der Lage. Nur am Spielfeldrand gehen die Gäule regelmäßig mit ihm durch.
terlichen Geschäft die Rolle des Vorbilds zu spielen.
Es ist Streich vermutlich immer wieder ziemlich peinlich, wenn er sich nach seinen Auftritten am Spielfeldrand später im Fernsehen studieren muss. Und es ist ihm abzunehmen, dass seine Reuebekenntnisse aus tiefstem Herzen kommen. Dass er auf seine Art den Unterhaltungsfaktor des Showgeschäfts erhöht, indem er dem Schauspiel so etwas wie den Hofnarren liefert, ist ihm in der Selbstbesinnung vermutlich bewusst. Das erklärt, warum er dann immer so zerknirscht ist. Bis zum nächsten Mal. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de