Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Volksdroge

- VON MARTIN KESSLER

DÜSSELDORF Verzicht benötigt eine feste Form. Die sechswöchi­ge Fastenzeit war deshalb für mich eine gute Gelegenhei­t, einmal völlig ohne Alkohol auszukomme­n. Und anders als es die katholisch­e Kirche vorschreib­t, wollte ich auch an den Sonntagen auf jegliche alkoholisc­hen Getränke verzichten. So waren es am Ende 46 Tage inmitten eines normalen Arbeitsall­tags, an denen ich weder Bier, Wein noch Spirituose­n konsumiert­e. Nicht einmal gefüllte Pralinen oder Weinsauce kamen infrage.

Der Verzicht fiel mir leichter, als ich befürchtet hatte. Doch ich machte eine andere Entdeckung: Der Alkohol ist der ungekrönte König unseres gesellscha­ftlichen Lebens. Ob Familienfe­st, Verabschie­dung eines verdienten Kollegen, gemütliche­s Essen unter Freunden, Ausgehen oder hochoffizi­elle Abendveran­staltung – nichts geht ohne Bier, Wein, Sekt und gelegentli­ch auch Schnaps. Schlimmer: Wer bei solchen Gelegenhei­ten nichts trinkt (schon dieser Ausdruck ist verräteris­ch), muss sich verteidige­n („Ich muss noch Auto fahren“oder „Ich bin schwanger“) oder auch umständlic­h nach anderen Getränken fragen, wenn es nicht gerade Wasser sein soll. „Man muss sich erklären, wenn man keinen Alkohol trinkt“– so sieht es auch der Soziologe Raphael Gaßmann, Geschäftsf­ührer der Deutschen Hauptstell­e für Suchtgefah­ren (DHS).

Man könnte noch weiter gehen. Insbesonde­re Wein, aber auch Bier und Schnaps, prägen unsere Kultur – die der germanisch­en und slawischen Welt allemal, aber auch Franzosen, Italiener, Spanier, Portugiese­n und Griechen verbinden gerne ihre Hauptmahlz­eit mit Rot- oder Weißwein. Mit Weizenbrot, Olivenöl und Wein kann man treffend mediterran­e Kultur umschreibe­n. In den Gegenden weiter nördlich kommt Bier, im Osten und Norden Europas in starkem Maß auch Hochprozen­tiges hinzu. Alkohol, so sahen es die beiden Ethnologin­nen Gisela Völger und Karin von Welck schon 1981 bei ihrer aufsehener­regenden Ausstellun­g „Rausch und Realität“in Köln, ist ein fast unverzicht­barer Bestandtei­l der abendländi­schen Kultur. Gehirngift­e wie Alkohol besitzen einen Symbolwert. Deshalb braucht Alkoholgen­uss auch einen Rahmen, der Zugehörigk­eit definiert.

Wenn etwa Kollegen sich verschwieg­en in einem Raum treffen, um einen edlen Tropfen zu trinken, ist man automatisc­h Spielverde­rber, wenn man sich – aus welchen ehrenwerte­n Gründen auch immer – nicht beteiligt. Aber auch der Abend mit Freunden oder das Essen in einem guten Restaurant hat einen anderen Charakter, wenn man statt Wein Wasser trinkt. Um wenigstens geschmackl­ich mitzuhalte­n, muss dann bisweilen ein Placebo herhalten, etwa ein alkoholfre­ies Bier. Meine Feststellu­ng dabei war, dass es einige Sorten gibt, die sich hervorrage­nd als Durstlösch­er eignen. Es muss also nicht immer „Stoff“sein.

Doch was wären die großen deutschen Volksfeste wie die Wiesn oder der Karneval ohne Alkohol? Eine abstinente Kirmes oder ein Galaabend ohne Wein und Sekt – undenkbar. Bei großen gesellscha­ftlichen Ereignisse­n regiert König Alkohol genauso wie auf dem intimen Familienfe­st, egal ob Hochzeit, Taufe, Kommunion, Konfirmati­on, runder Geburtstag. Selbst nach Bestattung­en gibt es oft reichlich Alkohol. Wenn Wissenscha­ftler sich zu Kongressen treffen, Gewerkscha­ften oder Parteien ihre Versammlun­gen abhalten, politische Koalitione­n oder neue Konzerne geschmiede­t werden, überall rundet Alkohol das Großereign­is ab.

„Alkohol entspannt und enthemmt. Das wird von vielen als angenehm empfunden. Bis zu einem gewissen Grad macht das eine Gruppe lockerer. Es kann aber auch schnell ins Gegenteil umschlagen“, weiß der Suchtexper­te Gaßmann. Die negativen Folgen des Al-

im Jahr 2016 in Liter puren Alkohols

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Der Alkohol ist der ungekrönte

König unseres gesellscha­ftlichen

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