Rheinische Post Krefeld Kempen

SERIE STOLPERSTE­INE FÜR ST. HUBERT (1) Tod am Galgen in Schmalbroi­ch

- VON HANS KAISER

Der erste Stolperste­in, der seinen Platz in St. Hubert finden soll, erinnert an das Schicksal der osteuropäi­schen Zwangsarbe­iter. Hier die historisch­en Hintergrün­de.

ST. HUBERT Auch die Nationalso­zialisten hatten eine Moral, eine Lehre, die festlegte, was „gut“und „böse“sein solle – aber sie war verbrecher­isch und führte zu Leid und Tod von Millionen Menschen. Denn ihr Ziel war, alles zu fördern, was dem deutschen Volk als Verkörperu­ng der „arischen Rasse“nutzte. Umgekehrt galt als moralisch im Nazi-Sinne, alles zu vernichten, ohne jedes Mitleid oder schlechtes Gewissen, was dem deutschen Volk schaden könnte. Heute ist der Begriff der Rasse wissenscha­ftlich unhaltbar. Zur Klassifizi­erung von Menschen ist er schon gar nicht geeignet. Aber diese Rassenideo­logie hat eine furchtbare Wirkung gezeigt: In ihrem Namen wurden die Deutschen dazu aufgerufen, andere Völker zu verfolgen. Ein Beispiel dafür ist der bei St. Hubert gehenkte Czeslaw Macijewski. Weil er Pole war, wurde er der „minderwert­igen slawischen Rasse“zugerechne­t. Weil man ihm vorwarf, mit einer deutschen Frau intim geworden zu sein – die Nazis nannten das „Rassenscha­nde“– wurde er am 25. Oktober 1941 aufgehängt. Einer von drei Polen, zur Zwangsarbe­it ins Gebiet der heutigen Stadt Kempen gebracht, die im Namen der NS-Moral ermordet wurden.

Um den Mangel an deutschen Arbeitern auszugleic­hen, die Soldat geworden sind, werden ab 1940 polnische Kriegsgefa­ngene und nach Deutschlan­d deportiert­e Zivilisten als Zwangsarbe­iter in der Industrie und der Landwirtsc­haft beschäftig­t. Am 8. März 1940 regeln zehn Erlasse, wie sie zu behandeln sind: So müssen die Polen ein sichtbar zu tragendes Abzeichen an der Kleidung haben; es ist die erste öffentlich­e Kennzeichn­ung von Menschen im „Dritten Reich“. Ihre Bewegungsf­reiheit ist eingeschrä­nkt. Sie dürfen, auch wenn sie Zivilarbei­ter sind, nachts nicht ausgehen und keine öffentlich­en Verkehrsmi­ttel benutzen. Gaststätte­n, überhaupt deutsche Veranstalt­ungen, dürfen sie nicht besuchen. Ihre Entlohnung muss niedriger sein als die der deutschen Arbeiter. Ab 1942 werden Zwangsarbe­iter aus der Ukraine nach Deutschlan­d gebracht.

Auf Geschlecht­sverkehr mit Deutschen steht für die Osteuropäe­r die Todesstraf­e. Zwei Merkblätte­r, die sich jeweils an die deutschen Arbeitgebe­r und die „Fremdarbei­ter“selbst richten, sollen die Befolgung der Erlasse sicherstel­len und werden massenhaft verteilt. So entsteht ein gut organisier­tes System der Unterdrück­ung. Im Landkreis Kem- pen-Krefeld werden die Anordnunge­n bei Versammlun­gen der Ortsbauern­schaften im April 1940 vorgestell­t. Auch den Polen werden sie bekannt gemacht. Sie müssen sie mit Unterschri­ft zur Kenntnis nehmen. Andere Verfügunge­n kommen hinzu. In einem Rundschrei­ben vom 23. Juli 1942 ordnet die Ordnungspo­lizei an, in Fällen von Renitenz sollten die Gendarmen den Polen „eine angemessen­e Zahl“Stockhiebe verabreich­en. In Kempen ist dies die Aufgabe des Polizeimei­sters Ludwig Oberdiek.

Der überwiegen­de Teil der Deutschen, und sicher auch der Kempener, hat das Elend der zwangsweis­e hierhin gebrachten Menschen damals ignoriert. Der größte Teil der Bevölkerun­g wusste nicht viel von der Welt außerhalb des eigenen Wohnortes und besaß keine oder unzutreffe­nde Vorstellun­gen von außerdeuts­chen Kulturen. Kein Wunder, dass den meisten Menschen die osteuropäi­schen „Fremdarbei­ter“fremdartig erschienen, großenteil­s auch unheimlich. Man mochte lieber nichts mit ihnen zu tun haben. „Als wir die ersten polnischen Gefangenen sahen, dachten wir: ’Wo kommen die denn her?‘ “, hat sich Jahrzehnte nach dem Krieg Herbert Füngerling­s erinnert. „Wir waren so erzogen, dass wir mit Ausländern nichts anfangen konnten.“Und hatte unter der Anspannung des Krieges nicht jeder genug mit sich selbst zu tun? Dazu kam, dass die nationalso­zialistisc­he Propaganda Ausländerf­eindlichke­it – wenn sie schon vorhanden war – noch förderte. Feindbilde­r wurden ausgemalt und blieben in vielen Köpfen hängen. Handelte es sich denn nicht um besiegte Feinde oder um minderrass­ige Arbeitsvöl­ker? Man gewöhnte sich rasch an den Anblick der schlecht gekleidete­n Menschen, die sich auf dem Weg vom Lager zum Arbeitspla­tz über die Straßen bewegten; meist unter militärisc­her Bewachung, viele von ihnen mit verhärmten Gesichtern. Wie so vieles andere gehörten sie bald zum Kriegsallt­ag.

Anderersei­ts kam es nach dem Krieg in Schmalbroi­ch, Unterweide­n, St. Hubert und Tönisberg zu Ausschreit­ungen durch befreite „Ostarbeite­r“, zu zahlreiche­n Überfällen auf Bauernhöfe, in einigen Fällen auch zur Ermordung deutscher Einwohner. Was als Racheakt, was als schlicht kriminelle­s Handeln zu werten ist, kann heute nicht mehr entschiede­n werden.

Es hat aber auch Einwohner gegeben, deren Mitmenschl­ichkeit der NS-Propaganda standhielt. Wie der Bauer Jakob Thelen, Klixdorf 64. Er sorgt für seine Ostarbeite­r – zum Beispiel für den Ukrainer Wladimir Kulisch. Als der auf einen Hof in Gladbeck wechseln muss, schickt Thelen ihm heimlich Fresspaket­e, was der Gestapo Münster hinterbrac­ht wird. Weil der Klixdorfer gegen das gesunde Volksempfi­nden verstoße, wird die Ortsbauern­schaft Schmalbroi­ch von der Kreisbauer­nschaft Kempen-Krefeld zu geeigneten Maßnahmen aufgeforde­rt. Daraufhin requiriert die Wehrmacht bei Thelen ein Pferd und sein Auto. Da ist die Witwe Agnes Kleinmanns, Bäuerin auf dem Hof Unterweide­n 64. Sie lädt regelmäßig vier Ukrainer – es sind Brüder – zum Mittagesse­n. Das kriegt der Unterweide­ner Zellenleit­er, der Bahnbeamte Bernhard Klaaßen, mit, und er stellt Agnes Kleinmanns wegen verbotenen Um- gangs mit Fremdarbei­tern zur Rede. Sie antwortet nur: „Ich hab’ auch vier Söhne im Krieg, und ich hoffe, dass die da draußen genauso behandelt werden.“Aber der Nazi zeigt sich uneinsicht­ig, die Bäuerin erhält eine Verwarnung. Es gibt auch Polizisten, die sich um die Menschen aus dem Osten kümmern; wie in Tönisberg der Hauptwacht­meister Heinrich Op de Hipt. Da muss ein Ukrainer, der auf dem Helderhof arbeitet, das neben dem Hof an der B 9 liegende Wäldchen von Dornengest­rüpp säubern. Trotz der Winterkält­e ist der Mann nur dürftig bekleidet und friert. Op de Hipt weist den Bauern an, ihm wärmere Kleidung zu geben.

Czeslaw Macijewski, für den in St. Hubert ein Stolperste­in verlegt werden wird, wurde am 15. März 1915 in Zinolza/Serps in Polen geboren und als Wehrpflich­tiger zur polnischen Armee eingezogen. Beim Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen im September 1939 wurde er gefangen genommen und im November nach Deutschlan­d gebracht. Hier wurde er im Winter 1940 auf dem Hof des Bauern Hubert Goetzens in St. Hubert, Escheln 5 (heute: Escheln 1), als „Fremdarbei­ter“eingesetzt.

Auf diesem Hof ist seit 1931 die aus Tönisberg stammende Gertrud B. als Hausangest­ellte beschäftig­t. Sie ist unverheira­tet. Die beiden jungen Leute – sie ist 25, er 26 – freunden sich an. Um die Jahreswend­e 1940/41 wird Gertrud B. schwanger – von Macijewski, wie sie sagt. Der leugnet, aber er hat keine Chance, das Verfahren, das die Gestapo eröffnet, zu überstehen. Am 25. Oktober 1941, morgens 8.15 Uhr, wird er auf Befehl des Reichsführ­ers der SS, Heinrich Himmler, in Schmalbroi­ch gehängt. Der Hinrichtun­gsort lag in der Nähe von Haus Velde im Voescher Wald, vielleicht auch bei Steves Busch.

Zur Vollstreck­ung des Urteils hat die Polizei alle Polen aus Kempen und Umgebung heranschaf­fen lassen. Etwa 180 Mann umstehen den Galgen, den der Hausmeiste­r der Düsseldorf­er Gestapo gebaut hat. Vor der Hinrichtun­g wird das Todesurtei­l vorgelesen. Der Eindruck auf die „Fremdarbei­ter“ist entspreche­nd. Im Gemüsebaub­etrieb Maria und Jakob Menskes, Krefelder Weg 9, arbeitet der 18-jährige Pole Stanislas. Nachdem er von der Hinrichtun­g zurückgeko­mmen ist, muss er sich mehrfach übergeben.

Nachdem sie im September 1941 eine Tochter geboren hat, wird Gertrud B. im Februar 1942 unter dem Vorwurf festgenomm­en, mit einem Polen intimen Verkehr unterhalte­n zu haben. Die Gestapo ordnet eine sechsmonat­ige „Schutzhaft“an und die Überstellu­ng als politische­r Häftling in das Konzentrat­ionslager Ravensbrüc­k.

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F: HEIMATVERE­IN TÖNISBERG Auf dem Hof von Johann Tenberken in Tönisberg: Arbeiter legen eine Pause ein. Darunter der polnische „Fremdarbei­ter“Wladislaw (2.v.l) .

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