Rheinische Post Krefeld Kempen
Das Haus der 20.000 Bücher
In den 1530er Jahren war Gershom Soncino, Spross einer berühmten italienischen Druckerfamilie, zu den Brüdern Nahmias gestoßen. Gutenberg hatte bereits die ersten Bücher in Deutschland gedruckt, doch innerhalb des Heiligen Römischen Reiches durften Juden keine hebräischen Texte herstellen. Infolgedessen kamen die ersten hebräischen Bücher erstmals 1475, dreißig Jahre nach der deutschen Revolution im Druckwesen, in Italien heraus. Die Familie Soncino war von Anfang an daran beteiligt, und das Buch von Misrachi in Chimens Sammlung stammte aus ihrer Druckerei.
Eine Generation später schlossen sich den Druckern in Konstantinopel zwei weitere Sepharden an, die Brüder Solomon und Joseph Yabes. Die Druckereien Nahmias, Soncino und Yabes machten die Stadt zu einem der dynamischsten Schauplätze des hebräischen Druckwesens; sie belieferte die Juden in Balat, südlich vom Goldenen Horn, in Haskçy, nördlich vom Goldenen Horn, und in Ortakôy auf der europäischen Seite des Bosporus.
Die Seiten vieler dieser Bücher bestanden aus Vellum, einem dicken, weichen Kalbsleder. Beim Umblättern klang es so, als würden kleine Wellen an ein Ufer plätschern; nur die erlesensten Bände wurden auf Vellum gedruckt. Die Tinte auf den Seiten ist fünfhundert Jahre später noch so gut sichtbar wie am Tag des Drucks. In einer Bomberg-Bibel kann man noch heute in den Kommentaren die schwarzen Tintenstriche erkennen, die venezianische Zensoren durch bestimmte Wörter gezogen hatten, damit nichts, was auch nur entfernt als antichristlich hätte angesehen werden können, durch die Pressen lief. Ursprünglich waren die einzelnen Seiten nur von einem Samtbändchen zusammengehalten worden. Im Laufe der Jahrhunderte hatte der ein oder andere Eigentümer sie zwischen dicken Deckeln binden lassen; die massivsten waren aus Schweinsleder (nach den rabbinischen Regeln darf die Haut eines nichtkoscheren Tieres, sofern es nicht gegessen wird, zum Binden von Büchern verwendet werden). Einige Bände wurden durch Kupferschnallen zusammengehalten, deren Metall im Laufe der Zeit oxidiert war und sich bläulich verfärbt hatte. Auf vielen Seiten waren kleine Symbole zu sehen, Anweisungen der Herausgeber an die Setzer. Kommentare zogen sich an beiden Rändern hinunter. Abschriften von Raschis Notizen zum Talmud erhielten normalerweise den Ehrenplatz am Innenrand (oder Bundsteg), während die Vermerke von weniger namhaften Kommentatoren am Außenrand erschienen. In gewisser Weise waren dies Vorläufer der Fußnoten, ein Leitfaden dafür, wie Gelehrte den Text zu lesen hatten. Chimen liebte die Detektivarbeit, die beim Umgang mit solchen Werken erforderlich war. So konnte er nicht nur ermitteln, wie man den biblischen Text gedeutet und wie sich dieses Verständnis mit der Zeit gewandelt hatte, sondern auch, wie die verschiedenen Kommentatoren von den Ideen der Vorgänger zehrten. Im Laufe der Jahrzehnte wurden immer mehr Kommentare hinzugefügt. Heutzutage können in einer Bibel bis zu vierzig unterschiedliche Erläuterungen auftauchen, wobei die Gedanken der verschiedenen Autoren in immer komplexeren Mustern um den Haupttextteil arrangiert sind.
Ich habe Chimen nie gefragt, was er empfand, wenn er RenaissanceVellum berührte, doch bei seiner innigen Liebe zu seltenen Büchern muss er eine fast sinnliche Erregung verspürt haben. „Sehen Sie sich die Technik an“, sagte Hamburg, als er mir eine Bomberg-Bibel zeigte, die er für die Bancroft Library erworben hatte. „Wenn man bedenkt, dass all das von Hand gemacht wurde – die geraden Linien und die Spalten, der hochwertige Satz und die Schriftarten. Dafür kann ich mich richtig begeistern.“Da Chimen solche Kostbarkeiten unter fürchterlichen Bedingungen aufbewahrte – das Haus war chronisch überheizt, und häufig sickerte Wasser durch die Decken –, dürfte er erleichtert darüber gewesen sein, dass diese Bücher so robust waren. Wenn sie in einer bedrohlichen Umgebung wie der des Hillway 5 ausharren mussten, dann war es von Vorteil, dass man sie auf einem so haltbaren Material wie Vellum gedruckt hatte. Gleichwohl waren die Kanten der Kalbslederseiten mit kleinen braunen Flecken gesprenkelt wie die Arme eines alten Mannes.
In der Hierarchie des gedruckten Wortes rangierten Bände aus Pergament eine Stufe unter denen aus Vellum. Pergament, das weniger kostspielig, doch immer noch unerschwinglich für den durchschnittlichen Käufer des 16. Jahrhunderts war, wurde ebenfalls aus Tierhaut hergestellt (allerdings für gewöhnlich nicht von Kälbern, sondern von Schafen, Ziegen, Pferden oder Eseln), die man in eine Kalklösung legte, abschabte und trocknete. Die Seiten waren ähnlich dick, fühlten sich jedoch spröder an, eher wie Karton. Wegen ihrer Brüchigkeit konnte man sie leichter versehentlich einreißen. In Chimens Besitz befanden sich auch viele Bände aus Pergament.
Die meisten Bücher waren jedoch aus Lumpenhalbstoff hergestellt. Im Unterschied zu holzhaltigem Papier, das ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur Norm wurde und die Massenproduktion von billigeren Büchern ermöglichte, war das Material der Renaissance säurefrei. Statt sich nach ein paar Jahren bräunlich zu verfärben und seine Feinstruktur einzubüßen, was bei heutigem Papier in der Regel der Fall ist, bleiben die Seiten eines vor vier- oder fünfhundert Jahren gedruckten Buches häufig unversehrt und lesbar, selbst wenn es an einem Ort verwahrt wird, dessen Klima so ungeeignet für die Lagerung seltener Texte ist wie das des Hillway.
Die seltenen Bücher auf Chimens Regalen, die im osmanischen Konstantinopel und andernorts veröffentlicht wurden, vermittelten einen Eindruck von den Gezeiten der jüdischen Geschichte: Wer wurde wann aus welchem Land vertrieben? Welche Ideen galten wo als ketzerisch? Welche Gegenden zeichneten sich durch Toleranz aus, und in welchen Ländern herrschte erzwungene Orthodoxie? Chimens Bücherkäufe dokumentierten, wo Juden zu welcher Zeit sicher leben konnten. Neben den Schätzen aus Konstantinopel umfasste seine Sammlung auch eine Reihe von Bänden, die in der lombardischen Stadt Mantua veröffentlicht worden waren, einem weiteren Zufluchtsort für das jüdische Verlagswesen im 16. Jahrhundert. Er nannte eine 1560 in Mantua gedruckte Haggada sein eigen, ebenso wie einen jiddischen Text, der dort um 1560 gedruckt worden war.
(Fortsetzung folgt)