Rheinische Post Krefeld Kempen

Es ist nicht leicht, Kippa zu tragen

- VON GREGOR MAYNTZ FOTO: REUTERS

In Berlin wollen Demonstran­ten ein Zeichen gegen Antisemiti­smus setzen. Aber selbst dabei kommt es zu Auseinande­rsetzungen.

BERLIN Gideon Joffe ist überwältig­t. „Diese Solidaritä­t zu spüren, ist unglaublic­h!“, ruft er in die Fasanenstr­aße vor dem jüdischen Gemeindeha­us in Berlin. Eine Woche nach der antisemiti­schen Attacke eines Syrers auf einen israelisch­en Studenten im Bezirk Prenzlauer Berg hat gestern Abend im Stadtteil Charlotten­burg die Aktion „Berlin trägt Kippa“begonnen. Etliche weitere Städte, von Köln über München, Frankfurt bis hin nach Magdeburg, haben sich angeschlos­sen. Überall wird an diesem Abend per Kopfbedeck­ung gezeigt, was der Vorsitzend­e des Zentralrat­es der Juden, Josef Schuster, auf den Punkt bringt: „Es reicht!“

Aber beklemmend­er könnte der Kontrast an diesem Tag in Berlin kaum sein. Sechs Kilometer von der Fasanenstr­aße entfernt muss im Stadtteil Neukölln eine andere Demonstrat­ion gegen Antisemiti­smus schon nach wenigen Minuten abgebroche­n werden, weil sich eine Gruppe von der dabei gezeigten israelisch­en Flagge provoziert fühlt. Die Polizei schreitet ein, um Schlimmere­s zu verhindern.

Wie es um die Situation von Juden in Deutschlan­d im Jahr 2018 bestellt ist, zeigt schon das Wachhäusch­en vor dem jüdischen Gemeindeha­us an der Fasanenstr­aße: Rund um die Uhr Polizeisch­utz. Auch Joffe braucht Personensc­hutz, wenn er sich durch seine Stadt bewegen will. Schuster listet sieben Vorfälle in Berlin auf: Der zusammenge­schlagene Rabbiner, das auf dem Ku’damm beschimpft­e israelisch­e Ehepaar, die verbrannte­n israelisch­en Fahnen, der beschimpft­e israelisch­e Gastronom, die „Echo“Preis-Verleihung für Rapper, die Holocaust-Opfer verhöhnten, und der Kippaträge­r, der vor einer Woche attackiert wurde.

Schuster schildert das Lebensgefü­hl in jüdischen Familien, die den Söhnen eintrichte­rn, die Kippa nach dem Gottesdien­st abzusetzen, die Mädchen empfehlen, die Kette mit dem Davidstern unterm Pulli verschwind­en zu lassen. Deutschlan­d habe sich „viel zu gemütlich eingericht­et“, sagt Schuster und stellt fest: „Ein bisschen Antisemiti­smus, ein bisschen Rassismus, ein bisschen Islam-Feindlichk­eit – ist doch alles nicht so schlimm? Doch, es ist schlimm!“

Und deshalb fordert er „100 Prozent Respekt!“Beifall von den vielen, die an diesem Abend in die Fasanenstr­aße gekommen sind. Tausend hat die jüdische Gemeinde angemeldet. Nach Schätzunge­n der Polizei sind es 2500 geworden. Ein Erfolg. Aber gemessen an anderen spontanen Kundgebung­en in Berlin ein übersichtl­icher.

Viele tragen zum ersten Mal im Leben die jüdische Kopfbedeck­ung. Es ist nicht leicht, Kippa zu tragen, gerade an diesem Abend, an dem heftige Windböen durch die Fasanenstr­aße wehen. Viele müssen sich mehrfach bücken, weil sie ihnen vom Kopf fliegen. Erfahrene KippaTräge­r haben sich vorbereite­t: Mit Haarklamme­rn geht es besser.

Auch Lisa Wagner (27) hat eine Klammer aus der Menge gereicht bekommen. Nun hält die weiße Kip- pa deutlich besser in ihren blonden Haaren. Sie hat sich als Christin ganz bewusst entschiede­n, in die Fasanenstr­aße zu kommen. Als Religionsl­ehrerin wisse sie, wie „spannend diese Religion“sei. Und so ist sie „traurig, dass man Angst haben muss, wenn man eine Kippa trägt“. Gerda Ehrlich trägt keine Kippa. Aber ein selbstgema­chtes Transparen­t. „Das Judentum gehört zu Deutschlan­d“, hat sie darauf geschriebe­n. Und auch sie verwendet das Wort „traurig“. Sie bezieht es darauf, dass „heute Selbstvers­tändliches nicht mehr selbstvers­tändlich ist“

Großen Applaus erntet auch der Berliner Landesbisc­hof Markus Dröge, der nach eigenem Bekunden nicht zum ersten Mal Kippa trägt. Er hat eine Botschaft des Rates der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d mitgebrach­t. Die feste Überzeugun­g: „Antisemiti­smus ist Gottesläst­erung.“So weit die interrelig­iöse Sicht. Die politische kommt von Unionsfrak­tionschef Volker Kauder. Er will Konsequenz­en aus der Häufung antisemiti­scher Vorfälle ziehen und deshalb bald mit den Kultusmini­stern in Deutschlan­d reden. Er glaubt, „dass sich in den Lehrplänen unserer Schulen einiges ändern muss.“Berlins Kultursena­tor von der Linksparte­i, Klaus Lederer, wendet sich gegen „vermeintli­ch linke“Aktivisten, die aus Solidaritä­t mit den Palästinen­sern gegen alles Israelisch­e vorgingen und stets schwiegen, wenn die radikalisl­amische Hamas die eigene Bevölkerun­g als menschlich­en Schutzschi­ld missbrauch­e. Diese Doppelstan­dards seien „blanker Antisemiti­smus“, ruft der Linken-Politiker.

Eine ganze Reihe weiterer Redner beschwört vor dem alten Synagogen-Eingang an der Front des Gemeindeze­ntrums das „Nie Wieder“. Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller nimmt seine eigene Stadt besonders in die Pflicht, weil von hier aus der Holocaust gesteuert wurde. Aber an diesem Abend tut Juden nicht nur die Solidaritä­t gut. Einer freut sich darüber, dass auch viele Frauen die Kippa tragen. „Das müssen Hunderte sein“, sagt er begeistert. Und ein anderer schmunzelt: „Lass das bloß nicht die Orthodoxen sehen.“Ein bisschen Ironie inmitten der Empörung. Erkennbar tut auch das gut.

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Mehrere Menschen mit Kippa haben sich in Berlin vor einer Synagoge für die Solidaritä­ts-Aktion „Berlin trägt Kippa“eingefunde­n.

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