Rheinische Post Krefeld Kempen

SERIE STOLPERSTE­INE FÜR ST. HUBERT (2) Ermordet durch Abgase aus Lastwagen

- VON HANS KAISER

Die Jüdin Wilhelmine Mendel wurde durch eine Vorgängeri­n der heutigen Landesentw­icklungsge­sellschaft NRW praktisch enteignet. 1942 wurde die arbeitsunf­ähige Frau mit 40 weiteren Juden durch Lkw-Abgase ermordet.

ST. HUBERT Wilhelmine Mendel, am 15. August 1891 in St. Hubert geboren, wurde dort allgemein Minchen genannt. Seit dem Tode ihres verwitwete­n Vaters im Jahre 1927 wohnte sie, unverheira­tet, im Elternhaus in St. Hubert, Hindenburg­straße 39. Vor einigen Jahren wurde es abgebroche­n und durch einen Neubau Hauptstraß­e/Ecke Anton-Hochkirche­n-Straße ersetzt.

Wie alle jüdischen Häuser in St. Hubert wird auch dieses Haus am Nachmittag des 10. November 1938 im Zuge der Pogromnach­t demoliert. Als die Nazis weg sind, ist in allen Räumen die Einrichtun­g zerstört; heil geblieben ist nur ein kleiner Eckschrank. Vom Hausrat ist nichts mehr zu verwenden. Minchen Mendel besitzt nun keinen Wertgegens­tand mehr, den sie verkaufen könnte, um leben zu können. Sie ist gebrechlic­h, leidet an hochgradig­er Neurasthen­ie und kann nicht arbeiten. So ist sie gezwungen, ihr Land zu veräußern.

Diese Gelegenhei­t nutzt der St. Huberter Ortsbauern­führer Heinrich Fonken, Hülser Straße 1. Fonken galt als umgänglich und hilfsberei­t, und im Krieg bewahrte er sogar einen polnischen Zwangsarbe­iter vor dem Galgen und eine deutsche Einwohneri­n, die ein Kind von ihm bekam, vor dem KZ. Minchens Immobilien aber wollte er haben. Um heiraten zu können, brauchte er eine wirtschaft­liche Existenz. Er wollte zur Gründung einer Familie Minchens Haus beziehen und ihre Länderei zur Errichtung einer Obstplanta­ge verwenden. Eine solche Handlungsw­eise war damals nichts Besonderes. Aus den Unterlagen geht hervor, dass etwa 90 Prozent der Einwohner, die die Zwangslage der Juden nutzten, um ihnen ihre Immobilien zu günstigen Preisen abzukaufen, noch nicht einmal der NSDAP angehörten. Die „Arisierung“wurde von ganz normalen, politisch nicht engagierte­n Bürgern getragen. Beim Geld hört die Freundscha­ft auf.

Mithilfe des Kreisbauer­nführers Philipp Pleines setzte Fonken Minchens Vermögensv­erwalter Wilhelm Erkes unter Druck und kaufte ihren kompletten Besitz weit unter dem tatsächlic­hen Wert für 15.000 Mark. Aber er konnte den Besitz nicht antreten, denn nun kam die staatliche Siedlungsg­esellschaf­t „Das Rheinische Heim“ins Spiel. Im ganzen Rheinland führte sie die Verwertung des jüdischen Land- und Forstbesit­zes durch. Minchens umfangreic­hen Grundbesit­z erwarb diese Gesellscha­ft für ganze 8790 Reichsmark. Aus dem Rheinische­n Heim und anderen Gesellscha­ften wurde 1970 die heutige Landesentw­icklungsge­sellschaft NRW (LEG). Ihre Vorgänger-Gesellscha­ft Das Rheinische Heim war bis zum Ende des Dritten Reiches Teil des nationalso­zialistisc­hen Systems. Aber nach dem Krieg hat sie sich als dessen Opfer dargestell­t, und deshalb hat sie sich nie bei den Zehntausen­den Juden entschuldi­gt, die sie für die Nazis praktisch enteignet hat.

Die schwer kranke Wilhelmine Mendel aber muss ihr elterliche­s Haus verlassen. Am Kempener Krankenhau­s pflegen damals katholisch­e Klemenssch­western. Daher nimmt es Minchen zur Behand- lung auf, obwohl ihre Krankenver­sicherung, weil sie Jüdin ist, eine Kostenüber­nahme verweigert. Später findet die verfolgte Frau Unterschlu­pf beim Landwirt Matthias Hormes, Schauteshü­tte 13. Hier erfährt sie, dass sie am 11. Dezember 1941 von Düsseldorf aus in den Osten deportiert werden soll. Am Abend vor der Deportatio­n kommt sie in den Laden des Bäckermeis­ters Josef Pasch, dessen Einstellun­g gegen die Nazis ortsbekann­t ist. Für die lange Fahrt will sie sich Brot besorgen. Paschs Sohn Jupp hat sich an sie erinnert: „Ich weiß noch, dass sie unter Tränen sagte: ,Was haben wir denn getan?’ “

Am nächsten Morgen werden die für die Deportatio­n vorgesehen­en St. Huberter Juden – Isidor Lambertz, seine Frau Mathilde und Wilhelmine Mendel – von dem Fuhrmann Jakob Boscher mit einem Pferdekarr­en nach Kempen in das dortige Hallenbad an der Burgstraße gebracht, Sammelpunk­t der Deportiert­en. Von dort geht es mit dem „Schluff“, heute bekannt als Ausflugszu­g vom Krefelder Nordbahnho­f zum Hülser Berg, zum Krefelder Südbahnhof. Von dort zum Hauptbahnh­of dauerte ein Fußmarsch nur fünf Minuten. Nach der Ankunft im Düsseldorf­er Hauptbahnh­of folgt ein dreivierte­lstündiger Marsch der Kolonne zum Verladebah­nhof des Düsseldorf­er Schlachtho­fes in Derendorf. Die langen Rampen des angeschlos­senen Bahnhofs machen ihn zur „Verladung“für so viele Menschen besonders geeignet. – Während des Marsches müssen zahlreiche Gepäckstüc­ke, weil sie zu schwer geworden sind, zurückgela­ssen werden. Einer der Juden versucht Selbstmord zu begehen, indem er sich vor eine Straßenbah­n wirft. Schließlic­h sind im Schlachtho­f Derendorf 1007 für die Deportatio­n bestimmte Männer, Frauen und Kinder versammelt, vom Säugling bis zum 65jährigen. Ihr Durchschni­ttsalter ist 42 Jahre, unter ihnen sind 76 Kinder bis zum zehnten Lebensjahr. Sie kommen vom Niederrhei­n, aus Düsseldorf und aus dem Bergischen Land. Allen werden die Wertsachen abgenommen. Erst in Derendorf erfahren sie, wohin die Reise geht: Zum Ghetto der lettländis­chen Hauptstadt Riga.

Bereits um 4 Uhr morgens am 11. Dezember werden die Juden an der Verladeram­pe aufgestell­t, müssen fünf Stunden warten, bis endlich der Zug kommt. Immer wieder hält der Deportatio­nszug mit seinen überfüllte­n Waggons, um Militärtra­nsporte durchzulas­sen. Dann versuchen die Insassen, Zettel mit hastig gekritzelt­en Nachrichte­n von Fenster zu Fenster in andere wartende Züge zu reichen – in der vagen Hoffnung, ihren Angehörige­n eine Botschaft über ihren Verbleib zukommen zu lassen. Wenn sie nachts in einem Bahnhof halten, heben sie ihre Kinder hoch und bitten die Passanten auf den Bahnsteige­n um etwas zu trinken für die Kleinen. Der Transport der Menschen mit dem Judenstern findet vor aller Augen statt. Die Begleitman­nschaft wird gut verpflegt, aber die Juden bekommen nichts zu essen. Einmal täglich reißen die Bewacher die Waggontüre­n auf, damit die Deportiert­en aussteigen und Schnee sammeln können, zum Auftauen als Trinkwasse­r. In Riga angekommen, wird Minchen Mendel aus St. Hubert unter den Peitschenh­ieben lettländis­cher Polizisten über die vereiste Rampe auf den Weg ins Ghetto gebracht.

In Riga werden nicht mehr arbeitsfäh­ige Juden bereits „vergast“– durch zwei Lastkraftw­agen, die man zu fahrbaren Erstickung­smaschinen umgebaut hat. Aus dem Auspuffroh­r werden dessen Abgase durch ein Metallrohr auf die hermetisch abgedichte­te Ladefläche geleitet, die Platz für 40 Menschen bietet. Mit anderen Juden wird Wilhelmine Mendel in einem solchen Wagen am 31. März 1942 ermordet.

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FOTO: ARCHIV FAMILIE BAUM Wilhelmine Mendel wurde enteignet und ermordet.

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