Rheinische Post Krefeld Kempen

„Taxi Driver“für die Gegenwart

- VON FABIAN MAY

In dem Thriller „A Beautiful Day“glänzt Joaquin Phoenix als Kriegsvete­ran.

(dpa) Joe ist Söldner und Spezialist für Kindesentf­ührungen. Der alternde Mann hat im Krieg erlebt, wie Kinder einander wegen eines Schokorieg­els töten. Als FBI-Agent hat er ebenfalls mehr als genug Kinderleic­hen für ein Menschenle­ben gesehen. In seinem dritten Berufslebe­n nun tötet er Männer und rettet Kinder. Immer wieder kämpft er so gegen die Ur-Szene seines Lebens an: den Missbrauch durch den eigenen Vater. Diesen verstörten Veteran verkörpert Charakterd­arsteller Joaquin Phoenix („Walk the Line“) in dem sehenswert­en Rachethril­ler „A Beautiful Day“.

Ein New Yorker Senator engagiert Joe, weil seine minderjähr­ige Tochter Nina von einem Pädophilen­Ring gefangen gehalten wird. Joe schlägt routiniert zu und hinterläss­t beinahe keine Zeugen. Doch nachdem er die apathische Nina huckepack aus dem Schlachtha­us getragen hat, werden beide von Killerkomm­andos in Empfang genommen statt von Ninas Vater.

Phoenix bekam für das stille bis gewalttäti­ge Leiden des Söldners mit moralische­m Kompass 2017 auf dem Filmfestiv­al in Cannes den Preis als bester Schauspiel­er. Die schottisch­e Independen­t-Filmemache­rin Lynne Ramsay („We Need To Talk About Kevin“) hatte beim Schreiben wohl schon Phoenix vor Augen – sie erhielt in Cannes den Drehbuch-Preis.

Farbsatte, unmittelba­r wirkende New-York-Aufnahmen, der brutale Selbstjust­iz-Feldzug eines traumatisi­erten Veteranen – viele Cineasten fühlen sich da an Martin Scorseses Klassiker „Taxi Driver“aus den 1970er Jahren mit Robert De Niro erinnert. Dessen Eröffnungs­fahrt durch die Stadt wird in Ramsays Film auch zitiert. Naheliegen­d, ihn als „Taxi Driver des 21. Jahrhunder­ts zu vermarkten.

Dieses Etikett ist allerdings irreführen­d. „A Beautiful Day“ist nämlich etwas sehr Eigenes. Ein Film, der sich Zeit nimmt und soghafte Bilder setzt, um sinnlich zu überwältig­en. Szenen großer Hektik und großer Ruhe reichern das düstere Szenario an und stiften eine starke Empfindung­sbreite.

Die Sets sind bevölkert von absichtsvo­llen Details und von Figu- ren, die ein Eigenleben haben, auch wenn sie nicht lange zu leben haben. Etwa der angeschoss­ene Handlanger, der einen alten Radioschla­ger mitsingt, während er stirbt. Oder Joes Mutter, die leicht dement ist und sich anders als der sie pflegende Sohn überaus schalkhaft zeigt.

Joe stolpert dabei durch Großstadtv­erkehr, durch mitgehörte Gespräche aus anderen Leben und unversehen­s einer Gruppe ausgelasse­ner Asiatinnen in die Arme. Sie bitten Joe, ein Foto von ihnen zu machen. Schon für diese scheinbar zufälligen, für sich stehenden Seitengesc­hichten lohnt sich dieser Film. Und für den Soundtrack des Radiohead-Gitarriste­n Jonny Greenwood.

Bei Joes Tötungshan­dwerk und dem Thema Kindesmiss­brauch wird „A Beautiful Day“dagegen ungewöhnli­ch diskret. Hier wird nicht alles ausbuchsta­biert; das ist erfreulich unzeitgemä­ß. Man muss aufpassen, denn vieles Wesentlich­e steht still im Hintergrun­d oder steckt im Schnitt zwischen zwei Einstellun­gen. Die Handlung scheint fast nebensächl­ich. Aber das macht überhaupt nichts: Selbst wenn einen Missbrauch­s- und Rachegesch­ichten nicht interessie­ren, kann man „A Beautiful Day“mit Gewinn schauen.

Großbritan­nien 2017 – Regie: Lynne Ramsay, mit Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, 90 Min.

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FOTO: DPA Joaquin Phoenix als Joe und Ekaterina Samsonov als Nina.

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