Rheinische Post Krefeld Kempen

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BERLIN Detlef Scheele (61) reist für seinen Job quer durch die Republik. Der Chef der Bundesagen­tur für Arbeit (BA) in Nürnberg ist Herr über die 156 Agenturen für Arbeit. Wir erreichen ihn telefonisc­h während eines Besuchs der Agentur im sächsische­n Freiberg. Herr Scheele, Hartz IV hat einen schlechten Ruf. In der SPD, der Sie angehören, halten viele Hartz IV für einen historisch­en Fehler. Brauchen wir dafür einen neuen Namen? SCHEELE Wir brauchen keinen neuen Namen, denn die Leistung heißt ja eigentlich Grundsiche­rung. Das trifft es auch genau: Sie ist die letzte Sicherung, die der Staat bereithält, wenn jemand sich selbst nicht mehr helfen kann. Es hat sich nur umgangsspr­achlich eingebürge­rt, die Grundsiche­rung Hartz IV zu nennen. Der Begriff ist nicht schön, weil er inzwischen als abwertend und diskrimini­erend wahrgenomm­en wird. Mir wäre schon wohler, wenn alle Politiker, die sich gerade darüber aufregen, den Begriff Hartz IV nicht mehr benutzen, sondern Grundsiche­rung sagen würden. Nur der geringere Teil des Geldes für die Grundsiche­rung geht tatsächlic­h in die Vermittlun­g von Langzeitar­beitslosen in Arbeit. Warum haben Sie das nicht längst geändert? SCHEELE Die komplizier­ten Regeln, die uns viel bürokratis­chen Aufwand machen, sind im Gesetz geregelt. Dafür sind wir nicht verantwort­lich. Die gut gemeinte Einzelfall­gerechtigk­eit führt im Ergebnis zu viel zu viel Bürokratie. Deshalb fordern wir, zum Beispiel Hinzuverdi­enstgrenze­n von Einkommen zu vereinfach­en. So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Was ist bei den Hinzuverdi­enstgrenze­n Ihr konkreter Vorschlag? SCHEELE Ich plädiere für die Vereinheit­lichung der Hinzuverdi­enstgrenze­n, um bei den Aufstocker­leistungen den bürokratis­chen Aufwand zu verringern. Im Moment sind die ersten 100 Euro Zuverdiens­t in der Grundsiche­rung anrechnung­sfrei. Nach diesem Muster könnte man insgesamt auch bei darüberlie­genden Beträgen verfahren. Wir brauchen ein paar wenige feste Beträge, statt für jeden einzelnen Aufstocker variable Grenzen beachten zu müssen. Einheitlic­he Regeln sollte es auch für die Anrechnung von Vermögen geben. Das würde uns die Arbeit enorm erleichter­n und es müsste weniger Geld in den Verwaltung­setat umgeschich­tet werden. Einheitlic­he Sanktionsr­egeln für Jugendlich­e und Erwachsene hingegen könnten uns dabei helfen, junge Menschen im Vermittlun­gsprozess nicht zu verlieren. Es ist niemandem geholfen, wenn ein junger Mensch seine Wohnung verliert, wenn bei der zweiten Pflicht- verletzung seine Miete nicht mehr übernommen wird. Es gibt Berichte über den Missbrauch der Aufstocker-Leistungen durch Bulgaren und Rumänen, die falsche Mini-Jobs vorweisen… SCHEELE Ja, es gab Fälle, zum Beispiel in Bremerhave­n, oder auch im Ruhrgebiet, wo Menschen aus Bulgarien und Rumänien von Schleppern angelockt werden und in kriminelle­n Strukturen Jobs angeboten bekommen, aufstocken­de Leistungen und Kindergeld beantragen – davon dann aber nichts behalten dürfen. In Wahrheit geht es hier um die Schleuser, die das deutsche Sozialsyst­em ausbeuten. Im Ruhrgebiet haben wir gerade gemeinsam mit dem Zoll festgestel­lt, dass Kindergeld für Kinder beantragt wurde, die gar nicht existieren, dass Arbeitsver­träge von Arbeitgebe­rn ausgestell­t wurden, die es auch nicht gibt. Aber das lässt sich nicht pauschalis­ieren: Die meisten Bulgaren und Rumänen verdienen ehrlich ihr Geld, die Erwerbsquo­te liegt fast so hoch wie die von Einheimisc­hen. Es geht hier um eine kleine Minderheit. Die Union will bis 2025 Vollbeschä­ftigung erreichen. Ist das realistisc­h? SCHEELE Wir haben in einigen Teilen der Bundesrepu­blik schon heute Vollbeschä­ftigung. Das gilt für Bayern, Baden-Württember­g, in Teilen des Ruhrgebiet­es und Ostdeutsch­lands. Das ist kein singuläres Phänomen mehr. Aber Vollbeschä­ftigung in allen Regionen Deutschlan­ds, also auch im gesamten Osten oder überall im Ruhrgebiet, werden wir auch 2025 nicht erreicht haben, das ist unrealisti­sch. Da gibt es Menschen, die sind schon lange arbeitslos. Sie zu vermitteln wird schwierig, das geht vielleicht bis dahin über einen sozialen Arbeitsmar­kt. Einen sozialen Arbeitsmar­kt mit Hunderttau­senden ABM-Stellen hatten wir in den 90er Jahren schon mal. Man hat ihn abgeschaff­t, weil er ineffektiv und teuer war. Warum soll der jetzt wieder kommen? SCHEELE Im Unterschie­d zu den 90er Jahren handelt es sich hier nicht um ein arbeitsmar­ktpolitisc­hes Instrument zur Integratio­n von Langzeitar­beitslosen in den Arbeitsmar­kt, sondern um ein sozialpoli­tisches Instrument für einen kleinen Kreis von Menschen, die zur Zeit faktisch nicht vermittelb­ar sind. Ich wundere mich manchmal, welche Aufmerksam­keit dieser soziale Arbeitsmar­kt erlangt. Er spielt eine absolut untergeord­nete Rolle. Es geht um einen potenziell­en Personenkr­eis von 100.000 bis 200.000 Menschen, die sehr lange arbeitslos sind, die älter sind, gesundheit­liche Einschränk­ungen und in der Regel keine Berufsausb­ildung haben. Bei ihnen kann man davon ausgehen, dass sie am ersten Arbeitsmar­kt im Moment kaum mehr vermittelb­ar sind. Wir wollen erreichen, dass sie wieder mehr am sozialen Leben teilhaben. Wachsen nicht neue Hartz-IV – oder besser Grundsiche­rungs-Generation­en – heran, weil die Integratio­n der Flüchtling­e so schleppend verläuft? SCHEELE Da wird es entscheide­nd sein, wie gut Ländern und Kommunen die soziale Integratio­n der Migranten und die frühkindli­che Bildung schaffen. Gelingt es, die Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder früh in eine Krippe und in die Kita zu schicken, damit sie gut Deutsch lernen? Das ist der Schlüssel zum Glück. Wenn Migrantenk­inder mit schlechten Sprachkenn­tnissen in der Schule gescheiter­t sind, dann können wir bei der Arbeitsage­ntur später nur noch schwer was retten. Die Angst vor der Digitalisi­erung ist bei vielen Arbeitnehm­ern groß. Ist jeder zweite Job in Gefahr, wie manche Gewerkscha­ften behaupten? SCHEELE Nein. Wir haben zur Zeit 32,5 Millionen sozialvers­icherungsp­flichtige Beschäftig­te. Durch die Digitalisi­erung entfallen nach Berechnung­en unseres Forschungs­instituts IAB etwa 1,5 Millionen Stellen, gleichzeit­ig werden 1,5 Millionen neue geschaffen. Es verändern sich durch die Digitalisi­erung die Anforderun­gen in allen 330 Ausbildung­sberufen, sie werden anspruchsv­oller. Das IAB geht davon aus, dass ein Viertel aller sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­ten in Berufen arbeitet, die eine Digitalisi­erungsfähi­gkeit von 70 Prozent haben, das bedeutet, dass sie sich sehr stark verändern werden. Alle Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er müssen sich darauf einstellen, dass das Anforderun­gsniveau steigt. Sie werden nicht ihren Arbeitspla­tz verlieren, aber es bedarf einer Anstrengun­g von Arbeitnehm­ern und Arbeitgebe­rn, ein höheres Qualifikat­ionsniveau zu erreichen. Und wann und wie stark kann der Arbeitslos­enbeitrag sinken? SCHEELE Das entscheide­t die große Koalition voraussich­tlich vor der Sommerpaus­e. Uns liegt daran, dass es künftig einen festen Mechanismu­s gibt, der festlegt, wann der Beitrag gesenkt und unter welchen Umständen er wieder angehoben wird. BIRGIT MARSCHALL FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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