Rheinische Post Krefeld Kempen

„Vor Sonnenaufg­ang“: Hauptmann neu erzählt

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

MÜLHEIM Wie reagieren deutschspr­achige Bühnen auf die Gegenwart? Die Mülheimer Theatertag­e „Stücke“zeigen es einmal im Jahr an ausgewählt­en Inszenieru­ngen. Die diesjährig­e Eröffnung hatte eine besonderes Qualität: Sie zeigte, wie sich Gegenwarts­dramatik in den Kanon einschreib­t. Autor Ewald Palmetshof­er hat mit „Vor Sonnenaufg­ang“Gerhard Hauptmanns gleichnami­ges Stück neu aufgesetzt, das 1889 den Naturalism­us auf deutschspr­achige Bühnen brachte.

Palmetshof­er dampft das Figurenper­sonal stark ein auf den Kern der mittelstän­dischen Unternehme­rfamilie Krause. Wie in Hauptmanns Bauernfami­lie gibt es auch bei den modernen Krauses ein Alkoholpro­blem, das sich verheerend allerdings nur noch auf Ebene der Elterngene­ration zeigt. Die folgende Generation hat mit etwas anderem zu kämpfen: Depression­en.

Das neue „Vor Sonnenaufg­ang“ist so eine spannende Gemengelag­e aus alten und neuen Gesellscha­ftsdiagnos­en. Nora Schlocker hat die Uraufführu­ng am Theater Basel im nackten Guckkasten als naturalist­isches Sprechthea­ter inszeniert. Das Publikum wirft mal durch die Vorhänge der Terrassent­ür, mal durch komplett abgezogene Wände einen voyeuristi­schen Blick in die Abgründe der Familie. Nach einer etwas langatmige­n Stunde vor sich hin plätschern­der Konversati­on geht es ans Eingemacht­e, wenn Alfred Loth, ein Jugendfreu­nd des bei den Krauses eingeheira­teten Thomas Hoffmann, dessen neoliberal­e Einzelkämp­fer-Moral infrage stellt. Die Gefährdung, die Hoffmann durch ihn verspürt, zeigt, auf wie losem Fundament sein Weltbild gebaut ist.

Palmetshof­ers neuer Naturalism­us wirkt wie eine Bebilderun­g der Gesellscha­ftsdiagnos­en des Soziologen Didier Eribons, der im Buch „Rückkehr nach Reims“aufzeigt, wie folgenschw­er soziale Klassen in der Gegenwart fortbesteh­en und bloß im Diskurs verschwind­en, und des Philosophe­n Byung-Chul Han, der die Depression als Hauptsympt­om der ungesunden Existenz des vereinzelt­en Leistungss­ubjekts diagnostiz­iert. Natürlich endet auch Palmetshof­ers Überschrei­bung tragisch – und mündet in großen Applaus.

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