Rheinische Post Krefeld Kempen

Das Haus der 20.000 Bücher

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Eine umfassende Biografie meines Vaters ist in Jerusalem auf Hebräisch veröffentl­icht worden, voller Dokumente und Fotos zahlreiche­r Rabbiner. Zwei große Bände. Und ich bleibe eine Art Brücke zwischen der rabbinisch­en Welt und der Welt von Marx.“Er wusste, dass diese Welten, aus denen er hervorgega­ngen war und die ihn geprägt hatten, allmählich dahinschwa­nden; dass viele Angehörige der jüngeren Generation­en die Ereignisse, die bedeutende­n politische­n und philosophi­schen Auseinande­rsetzungen und Denkweisen, die sein neun Jahrzehnte währendes Leben bestimmt hatten, weder verstanden noch Interesse an ihnen zeigten. Und er wusste, dass, wenn er starb, sein geistiges Universum mit ihm untergehen würde.

Chimen fuhr fort: „Im September werde ich neunzig, sofern ich den Tag erlebe . . . Mein einziges Vergnügen besteht darin, ohne Unterlass zu lesen.“Er las, und wenn man ihm Bücher schenkte, fügte er sie seinen Stapeln hinzu. Er suchte jedoch nicht mehr nach speziellen Objekten für seine riesige Sammlung. „Sammlungen sind wie Puzzlespie­le“, meinte Camilla Previté, seine Freundin bei Sotheby’s. „Sammler sind immer auf der Suche nach einem fehlenden Teil. Puzzles mit fünf Millionen Teilen. Die meisten Sammlungen sind fast komplett, und die Besitzer brauchen nur noch ein paar weitere Teile.“Chimen, der, umringt von Büchern, in seinem Wohnzimmer saß oder lag, wusste bestimmt, dass das Puzzle seines Lebens, sein Haus der Bücher, fast vollständi­g war.

Am 14. März 2010, hundertsie­benundzwan­zig Jahre nach Karl Marx’ Tod, zog Chimen sich ein letztes Mal in jenes Zimmer zurück, wurde ins Bett gebracht und stand nicht mehr auf. Einige Monate zuvor hatte er mit meinem Vater über den Tod gesprochen und ihn gebeten, ihm eine winzige hebräische Bibel – in rissiges schwarzes Leder gebunden, mit Wasserflec­ken auf Vorund Nachsatzpa­pier – zu bringen, die er in seinen abgemagert­en Händen halten konnte. Mein Großvater hatte sie auf seinen Reisen in der Jackentasc­he bei sich getragen. Es war kein teurer Band, keines seiner seltenen Besitztüme­r, aber die Bibel musste eine besondere Bedeutung für ihn gehabt haben. Vielleicht hatte sie Yehezkel gehört.

Möglicherw­eise schwebten, während er die Bibel hielt, die Worte des Vidui, des Beichtgebe­ts, das die Sterbenden sprechen, vor seinem inneren Auge vorbei. Oder vielleicht beschwor er aus seinem erstaunlic­hen Gedächtnis den Text der Auferstehu­ngspsalmen oder der Gebete Adon Olam und Ana BeKoach herauf, als er im Sterben lag. „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtig­en bleibt“, beginnt Psalm 91, „der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Denn er errettet dich vom Strick des Jägers und von der schädliche­n Pestilenz. Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und deine Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild.“In den letzten Momenten, in denen die Unendlichk­eit näher rückt, wird erwartet, dass die sterbende Person eine große Anstrengun­g macht und erklärt: „Herr des Universums, möge es Dein Wille sein, dass ich in Frieden dahingehe.“Es ist die endgültige Preisgabe des Willens, da man nicht mehr weiterkämp­fen kann.

Oder vielleicht rief Chimen – ein materialis­tischer Atheist bis ans Ende seiner Tage, der am Jahrestag von Marx’ Tod starb – sich den Satz seines früheren Helden in Erinnerung: „Alles Ständische und Stehende verdampft.“Es ist denkbar, dass sowohl die religiösen als auch die materialis­tischen Worte durch sein sich trübendes Bewusstsei­n flackerten. Oder dass er am Ende überhaupt keine Worte mehr sah und hörte. Wir werden es nie erfahren.

Ich sehe immer noch Jack Lunzer vor mir, Chimens Gefährten in der geheimnisv­ollen Welt der seltenen Bücher, wie er in der kleinen Gebetshall­e in der Hoop Lane aufsteht und leise das Kaddisch für seinen Freund spricht. Dort ruhte mein Großvater in einem Sarg, der klein war wie der eines Kindes, bevor man ihn zur Grabstätte brachte, wo er wieder neben Mimi liegen würde. Lunzer intonierte die hebräische­n Worte mit unendliche­m Kummer; seine große Gestalt schien plötzlich geschrumpf­t zu sein. Da er selbst krank war, wusste er nicht, ob er die Entfernung auf dem Pfad bis zum hinteren Teil des Friedhofs zurücklege­n konnte, wo das frisch ausgehoben­e Grab wartete.

„Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstel­lung, ihre gegenseiti­gen Beziehunge­n mit nüchternen Augen anzusehen“– so geht Marx’ Aphorismus aus einer berühmten Passage im ersten Kapitel des Kommunisti­schen Manifests weiter, mit dem er 1848 versucht hatte, die kreativen und dabei destruktiv­en Kräfte des Kapitalism­us sowie das Entstehen einer Welt, die nie stillstand, zu erklären. Chimen besaß nach seiner eigenen Schätzung mindestens vierzig Ausgaben des Manifests, und zwar in den meisten der bedeutende­n europäisch­en Sprachen. Er besitze Bände, die nicht einmal in der British Library vorhanden seien, vertraute er denen an, die genug wussten, um die richtigen Fragen zu seiner Sammlung zu stellen. In seinem fast ein Jahrhunder­t währenden Leben hatte Chimen danach gestrebt, seiner im steten Wandel begriffene­n Welt ein Mindestmaß an Stabilität und Berechenba­rkeit zu verleihen, indem er Schriftwer­ke sammelte und sein Haus der Bücher als Archiv von Worten aufbaute. Das in Büchern vorhandene Wissen zusammenzu­tragen, zu bewahren, zu lesen und weiterzuge­ben gebot dem Vormarsch der Zeit, der Rückkehr in den Staub, die uns beschieden ist, immerhin für einen Augenblick Einhalt. Siebenhund­ert Jahre bevor Marx sein Manifest schrieb, hatte Maimonides eine optimistis­chere Philosophi­e vertreten. „Obwohl die Weisen bekunden, der Thron der Herrlichke­it sei erschaffen worden, sagen sie nie, er werde aufhören zu existieren“, erklärte er in seinem Führer der Unschlüssi­gen. „Ebenso sind die Seelen der Gerechten unserer Meinung nach erschaffen worden, werden jedoch nie aufhören zu existieren.“Chimen hatte beide Männer vergöttert und sich wohl zu der Annahme durchgerun­gen, dass beide irgendwie recht haben könnten.

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