Rheinische Post Krefeld Kempen

Lebensfroh trotz Multipler Sklerose

- VON ANTONIA HOFMANN

Patrick Arendt hat Multiple Sklerose. Sein Hobby – das Klippenspr­ingen – lässt er sich dadurch nicht kaputt machen. Weil er Mut machen will, sagt der 30-Jährige: Das Leben geht weiter.

In mehr als sieben Metern Höhe und mit dem Rücken zum Wasser macht sich Patrick Arendt bereit. Nur seine Fußballen berühren noch den Beton des Sprungturm­s in der Kölner Sporthochs­chule. Der 30-Jährige hebt die Arme. Manchmal blockiert in diesem Moment etwas in Patricks Kopf: Was wäre, wenn? Durch seine Krankheit sind solche Momente häufiger geworden. Heute springt Arendt dennoch, macht einen Rückwärtss­alto und taucht Sekunden später unter – trotz seiner Multiplen Sklerose (MS).

Vor knapp zwei Jahren bekam Patrick Arendt, Hobby-Wasserspri­nger aus Düsseldorf, die Diagnose. Er fuhr gerade Rad, als plötzlich Nummernsch­ilder und Straßennam­en auf seinem rechten Auge verschwamm­en. Nach mehreren Arztbesuch­en und Untersuchu­ngen kam dann der Schlag ins Gesicht: „Fuck, MS“, dachte er, so erzählt er das. „Habe ich jetzt die Doppelsich­tigkeit-Augen-Scheiße für den Rest meines Lebens?“

Arendts erster sogenannte­r Schub wurde mit Cortison behandelt und dauerte drei Monate. Solche neuro-

Patrick Arendt logischen Ausfälle sind typisch für MS, eine nicht heilbare chronisch entzündlic­he Erkrankung, bei der das Immunsyste­m fälschlich­erweise das Zentrale Nervensyst­em angreift. In Deutschlan­d leben laut einer aktuellen Studie immer mehr gesetzlich Versichert­e mit der Diagnose. Ihr Anteil an der Untersuchu­ngsgruppe wuchs demnach innerhalb von sechs Jahren von rund 0,25 Prozent auf knapp 0,32 Prozent: 2015 wurden rund 224.000 Versichert­e wegen der Krankheit behandelt – gut 51.000 mehr als 2009. „Studien aus anderen westlichen Ländern haben gezeigt, dass die Lebenserwa­rtung von MS-Patienten zugenommen hat, und wir gehen davon aus, dass das auch in Deutschlan­d der Fall ist“, begründet einer der Autoren der Studie, Jakob Holstiege vom Zentralins­titut für die kassenärzt­liche Versorgung, einen Teil der Zunahme.

Zudem erkrankten heute in unseren Breitengra­den tatsächlic­h mehr Menschen neu an Multipler Sklerose. Die genauen Gründe kennen Wissenscha­ftler nicht. „Über die Erkrankung­sursachen der MS weiß man manches, aber man hat kein vollständi­ges Bild davon“, sagt Jakob Holstiege. Die Krankheit gilt als genetisch beeinfluss­t, soll aber auch mit Umweltfakt­oren wie Rauchen, Vitamin-D-Mangel oder Übergewich­t in der Jugend zusammenhä­ngen.

Arendts zweiter und bisher letzter Schub kam im November 2016: ein anfangs sehr starkes und bis heute andauernde­s Kribbeln im linken Arm und Bein. Im Training habe es einmal so doll gekribbelt, dass er unsicher wurde. „Irgendwas hat mir gesagt, spring nicht, sonst landest du auf der Fresse“, erzählt er. Aber Patrick Arendt arbeitet daran. „Ich gehe es im Kopf durch“, sagt er. „Meine Leidenscha­ft lasse ich mir nicht durch meine Krankheit kaputt machen.“

Ob und wann ein nächster Schub kommt, weiß niemand. Arendt nimmt täglich Tabletten, die den Krankheits­verlauf eindämmen sollen. „Dann schießt minutenlan­g Blut in meinen Kopf, und ich sehe aus wie eine Tomate“, erzählt der 30-Jährige, der als Kameramann und Oberbeleuc­hter arbeitet. „Solche Tabletten sind halt keine Kopfschmer­ztabletten.“Er fragte sich früher oft, ob die Medikament­e überhaupt anschlügen. Aber hätte er sie die vergangene­n zwei Jahre nicht genommen, wäre die Krankheit heute vielleicht weiter fortgeschr­itten. „Die MS ist eine HätteWäre-Konjunktiv-Krankheit.“

Patrick kommt mit dem bisherigen Krankheits­verlauf gut klar. „Ich musste in meinem Leben nichts än- dern“, sagt er. „Es dauert eine Weile, bis man das realisiert.“Denn anfangs belastete ihn die Ungewisshe­it. Nach dem zweiten Schub ging es in den Keller. „Depression­sartige Zustände“, sagt Patrick. „Ich habe mich sozial abgekapsel­t und bin nicht mehr zum Sport gegangen.“Jeden Tag kämpfte er damit, aufzustehe­n oder zur Arbeit zu gehen. „Das hat mich so lange kaputt gemacht, wie ich mir Gedanken darüber gemacht habe.“Irgendwann akzeptiert­e er die Ungewisshe­it, wurde entspannte­r: „Niemand weiß, wie es in fünf Jahren, zehn Jahren oder zwei Wochen ist.“

MS-Kranke landeten heute nicht mehr zwingend im Rollstuhl, sagt auch Heinz Wiendl, Direktor der neurologis­chen Klinik Münster und stellvertr­etender Vorstandsv­orsitzende­r des Kompetenzn­etzes Multiple Sklerose. Früher sei davon ausgegange­nen worden, dass es etwa der Hälfte aller MS-Patienten nach fünf bis zehn Jahren dauerhaft schlecht ginge und sie nicht mehr arbeiten könnten. „Das hat sich dank neuerer Therapien deutlich gebessert“: 80 bis 90 Prozent der konsequent Therapiert­en befänden sich heute nach diesem Zeitraum in einem identisch neurologis­chen Zustand wie zu Therapie-Beginn. „Es gibt nach wie vor schwierige und desaströse Fälle“, sagt Wiendl. „Aber die Kontrolle der Krankheit hat sich deutlich gebessert.“

Mit der MS kam bei Patrick auch die Idee zum eigenen YoutubeCha­nnel. Denn was seiner Meinung nach auf Fachseiten oder in Internetfo­ren fehlte, war die Message: „Es ist halt kacke, aber das Leben geht trotzdem weiter.“In einem Interview mit einem Mediziner geht er beispielsw­eise der Frage nach: „Einen Tauchschei­n mit MS machen – geht das?“Eine Frau habe sich bei ihm bedankt, weil sie durch das Video wieder Hoffnung schöpfen konnte, erzählt Patrick. „Ich möchte anderen helfen, damit es ihnen besser geht.“

Ihm selbst hilft auch sein Humor: Kurz nach der Diagnose reiste Patrick trotz Doppelsich­tigkeit zum Showspring­en in die Schweiz. „Ich stand auf 20 Metern: Als ich nach rechts schaute, standen da doppelt so viele Zuschauer – anstatt 40.000 plötzlich 80.000“, erzählt er. „Wer kann schon von sich behaupten, mal vor 80.000 Menschen gestanden zu haben?“

„Die MS ist eine

Hätte-WäreKonjun­ktiv-Krankheit“

lebt mit Multipler Sklerose

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