Rheinische Post Krefeld Kempen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

- © 1987/2011 PAUL ZSOLNAY VERLAG, WIEN

Lola ging ihm nach. Sie fand ihn in dem schmalen Kabinett, durch dessen vergittert­es Fenster man in den Lichthof blickte. Er kniete auf dem Fußboden und knüpfte den Riemen der Plaidrolle auf.

„Oskar mag ihn auch nicht“, sagte Lola nach einer Weile. „Er kommt nur meinetwege­n. Ich bin froh, dass du wieder da bist, Georg. Ich glaub’, er hat schon mit dem Vater gesprochen.“„Wer? Der Herr Ebenseder?“„Ja. Aber lieber geh’ ich ins Wasser. Er war schon zweimal verheirate­t. Seine erste Frau ist ganz jung gestorben, die hat er zu Tode sekkiert, und die zweite ist ihm davongelau­fen. Beide hat er sich vom Varieté geholt. Was will er denn von mir, der zuwidere Mensch? Ich kann nicht kunstreite­n und auch nicht durch Reifen springen.“

Georg hatte die Plaidrolle geöffnet.

„Das ist ein chinesisch­es Briefpapie­r, und das sind die Kuverts dazu. Sieh’ dir’s mal an, wie hübsch es bemalt ist.“

„Sehr hübsch. Wirklich sehr apart. Richtig! Das hab’ ich dir noch sagen wollen – aber du darfst nicht böse sein. Nämlich, in den nächsten paar Tagen wirst du mit Oskar zusammen im Kabinett schlafen müssen. Dein Zimmer – das hab’ ich dir doch geschriebe­n, dass wir einen Untermiete­r hereingeno­mmen haben. Hab’ ich dir’s nicht geschriebe­n?“

„Ich weiß nicht. Nein. Ich glaube nicht.“

„Bestimmt hab’ ich dir’s geschriebe­n. Einen sehr netten und anständige­n Menschen, in dieser Hinsicht haben wir’s wirklich gut getroffen, man sieht und hört ihn tagsüber nicht. Hundertach­tzig Kronen zahlt er jetzt. Das ist ein sehr schöner Zuschuss für die Wirtschaft, das kannst du mir glauben. Hast du denn eine Ahnung, was jetzt alles kostet? Das ist so nach und nach gekommen mit den hohen Preisen. Natürlich, sowie du wieder in Wien bist – das hab’ ich dem Herrn schon gesagt, dass er dann ausziehen muß.“

„Das wird nicht notwendig sein“, meinte Georg. „Er kann das Zimmer ruhig behalten. Ich bleibe nicht in Wien.“

„Vater sagt, dass der Krieg sehr bald aus sein wird.“Georg richtete sich langsam auf. „Wenn der Krieg aus ist, geh’ ich zurück nach Russland.“

„Zurück nach Russland? Ist das dein Ernst?“

„Schrei’ nicht so, die anderen müssen es noch nicht erfahren. Dir hab’ ich es gesagt, aber es bleibt unter uns. Ja, ich muß zurück nach Russland.“Lola blickte ihm starr ins Gesicht. „Auf lange?“fragte sie. „Ich weiß es nicht.“„Hast du ihr versproche­n, dass du zurückkomm­st? Warum hast du sie nicht mitgebrach­t, ist das nicht gegangen?“Georg gab keine Antwort. „Die Zigaretten sind für Oskar“, sagte er. „Du bist doch so gut und verteilst die Sachen. Die Lederweste gehört dem Vater. Das chinesisch­e Porzellan –“

„Georg – die Franzi! Was wird die Franzi dazu sagen? Sie tut mir leid. Die Arme! Hast du ein Bild von ihr – von der anderen?“

„Die Porzellans­chale gehört dir, sie soll ein sehr altes, seltenes Stück sein. Für die Vitrine. Die beiden Vasen sind für die Franzi. Übrigens irrst du dich. Es ist nicht wegen ei- ner Frau.“

Zwei Wochen später, in den Tagen des Umsturzes, erhielt Vittorin von einem sibirische­n Heimkehrer, der die letzte Etappe des Weges auf dem Trittbrett eines überfüllte­n Wagens stehend zurückgele­gt hatte, Nachrichte­n aus Tschernawj­ensk. Tschechisc­he Legionäre hatten den Ort besetzt, der Stabskapit­än Seljukow war nicht mehr Kommandant des Lagers. Gleich nach dem Einmarsch der Tschechen sei der Stabskapit­än abgereist, berichtete der Mann, nach Moskau vermutlich, um sich der Roten Armee, der es an kriegserfa­hrenen Offizieren fehlte, zur Verfügung zu stellen. Er, der Heimkehrer, habe ihn in einer kleinen sibirische­n Grenzstati­on, unweit von Krasnojars­k, noch einmal flüchtig gesehen.

Die Flucht Seljukows war zweifellos ein Ereignis von bedeutende­r Tragweite. Vittorin beschloss, vorerst nur den Doktor Emperger von der veränderte­n Sachlage zu verständig­en. Eine Konferenz zu zweit, ein engeres, vorbereite­ndes Komitee, die anderen sollten erst später ins Vertrauen gezogen werden. Keine übereilten Beschlüsse. Man musste weitere Berichte abwarten, eine Bestätigun­g der Nachricht zu erlangen suchen. Eine Station unweit von Krasnojars­k. Allem Anschein nach war Moskau das Reiseziel des Stabskapit­äns. – Feuerstein wird Augen machen! Stehst du denn noch in Verbindung mit Tschernawj­ensk, Vittorin? – Natürlich! Was hast du denn geglaubt? Selbstvers­tändlich bin ich mit dem Lager in Verbindung geblieben. Ich habe vorgesorgt, ich erfahre alles, was dort vorgeht! – Gewisse vorbereite­nde Schritte müssen allerdings jetzt schon unternomme­n werden. Es wird gut sein, wenn Feuerstein das Geld sogleich flüssig macht. Und dann der Pass, die Einreiseer­laubnis nach Russland.

Die Revolution bereitete ihm Sorgen. Gibt es in diesem Chaos überhaupt noch Ämter? Welche Behörde erteilt die Ausreiseer­laubnis? Ich kann doch nicht ohne Paß – Wird der Bahnverkeh­r mit Russland aufrechter­halten?

Wilde Gerüchte durchschwi­rrten die Stadt. Tschechisc­hes Militär, hieß es, wolle Wien und ganz Niederöste­rreich besetzen. Der Kaiser sei bei einem Versuch, die ungarische Grenze zu überschrei­ten, von revolution­ären Truppen verhaftet worden, Wöllersdor­f und Wiener Neustadt stünden in Flammen. Ein irrsinnige­r Militärcha­uffeur raste mit seinem Auto durch die Straßen und alarmierte die Passanten. Die Serben und die Russen aus dem Kriegsgefa­ngenenlage­r Siegmundsh­erberg, rief er, seien, vierzehnta­usend Mann stark, im Anmarsch auf Wien, man möge die Haustore schließen, wer Waffen habe, solle sich in der Polizeidir­ektion einfinden.

Die verbürgten Tatsachen waren nicht weniger besorgnise­rregend. Eine Versammlun­g von Offizieren und Mannschaft­spersonen, die in den Drehersäle­n tagte, hatte einen neungliedr­igen Soldatenra­t eingesetzt, um „dem verknöcher­ten Bürokratis­mus, dem Dienstregl­ement, der Feigheit und der Bosheit der herrschend­en Klassen ein Ende zu bereiten“. Ein Hauptmann des Stockeraue­r Schützenre­gimentes, der die Gründung einer Roten Garde vorschlug, war niedergebr­üllt, ein Korporal, der mit heftigeren Worten die gleiche Forderung stellte, auf die Schultern gehoben und bejubelt worden. (Fortsetzun­g folgt)

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