Rheinische Post Krefeld Kempen
Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Lola ging ihm nach. Sie fand ihn in dem schmalen Kabinett, durch dessen vergittertes Fenster man in den Lichthof blickte. Er kniete auf dem Fußboden und knüpfte den Riemen der Plaidrolle auf.
„Oskar mag ihn auch nicht“, sagte Lola nach einer Weile. „Er kommt nur meinetwegen. Ich bin froh, dass du wieder da bist, Georg. Ich glaub’, er hat schon mit dem Vater gesprochen.“„Wer? Der Herr Ebenseder?“„Ja. Aber lieber geh’ ich ins Wasser. Er war schon zweimal verheiratet. Seine erste Frau ist ganz jung gestorben, die hat er zu Tode sekkiert, und die zweite ist ihm davongelaufen. Beide hat er sich vom Varieté geholt. Was will er denn von mir, der zuwidere Mensch? Ich kann nicht kunstreiten und auch nicht durch Reifen springen.“
Georg hatte die Plaidrolle geöffnet.
„Das ist ein chinesisches Briefpapier, und das sind die Kuverts dazu. Sieh’ dir’s mal an, wie hübsch es bemalt ist.“
„Sehr hübsch. Wirklich sehr apart. Richtig! Das hab’ ich dir noch sagen wollen – aber du darfst nicht böse sein. Nämlich, in den nächsten paar Tagen wirst du mit Oskar zusammen im Kabinett schlafen müssen. Dein Zimmer – das hab’ ich dir doch geschrieben, dass wir einen Untermieter hereingenommen haben. Hab’ ich dir’s nicht geschrieben?“
„Ich weiß nicht. Nein. Ich glaube nicht.“
„Bestimmt hab’ ich dir’s geschrieben. Einen sehr netten und anständigen Menschen, in dieser Hinsicht haben wir’s wirklich gut getroffen, man sieht und hört ihn tagsüber nicht. Hundertachtzig Kronen zahlt er jetzt. Das ist ein sehr schöner Zuschuss für die Wirtschaft, das kannst du mir glauben. Hast du denn eine Ahnung, was jetzt alles kostet? Das ist so nach und nach gekommen mit den hohen Preisen. Natürlich, sowie du wieder in Wien bist – das hab’ ich dem Herrn schon gesagt, dass er dann ausziehen muß.“
„Das wird nicht notwendig sein“, meinte Georg. „Er kann das Zimmer ruhig behalten. Ich bleibe nicht in Wien.“
„Vater sagt, dass der Krieg sehr bald aus sein wird.“Georg richtete sich langsam auf. „Wenn der Krieg aus ist, geh’ ich zurück nach Russland.“
„Zurück nach Russland? Ist das dein Ernst?“
„Schrei’ nicht so, die anderen müssen es noch nicht erfahren. Dir hab’ ich es gesagt, aber es bleibt unter uns. Ja, ich muß zurück nach Russland.“Lola blickte ihm starr ins Gesicht. „Auf lange?“fragte sie. „Ich weiß es nicht.“„Hast du ihr versprochen, dass du zurückkommst? Warum hast du sie nicht mitgebracht, ist das nicht gegangen?“Georg gab keine Antwort. „Die Zigaretten sind für Oskar“, sagte er. „Du bist doch so gut und verteilst die Sachen. Die Lederweste gehört dem Vater. Das chinesische Porzellan –“
„Georg – die Franzi! Was wird die Franzi dazu sagen? Sie tut mir leid. Die Arme! Hast du ein Bild von ihr – von der anderen?“
„Die Porzellanschale gehört dir, sie soll ein sehr altes, seltenes Stück sein. Für die Vitrine. Die beiden Vasen sind für die Franzi. Übrigens irrst du dich. Es ist nicht wegen ei- ner Frau.“
Zwei Wochen später, in den Tagen des Umsturzes, erhielt Vittorin von einem sibirischen Heimkehrer, der die letzte Etappe des Weges auf dem Trittbrett eines überfüllten Wagens stehend zurückgelegt hatte, Nachrichten aus Tschernawjensk. Tschechische Legionäre hatten den Ort besetzt, der Stabskapitän Seljukow war nicht mehr Kommandant des Lagers. Gleich nach dem Einmarsch der Tschechen sei der Stabskapitän abgereist, berichtete der Mann, nach Moskau vermutlich, um sich der Roten Armee, der es an kriegserfahrenen Offizieren fehlte, zur Verfügung zu stellen. Er, der Heimkehrer, habe ihn in einer kleinen sibirischen Grenzstation, unweit von Krasnojarsk, noch einmal flüchtig gesehen.
Die Flucht Seljukows war zweifellos ein Ereignis von bedeutender Tragweite. Vittorin beschloss, vorerst nur den Doktor Emperger von der veränderten Sachlage zu verständigen. Eine Konferenz zu zweit, ein engeres, vorbereitendes Komitee, die anderen sollten erst später ins Vertrauen gezogen werden. Keine übereilten Beschlüsse. Man musste weitere Berichte abwarten, eine Bestätigung der Nachricht zu erlangen suchen. Eine Station unweit von Krasnojarsk. Allem Anschein nach war Moskau das Reiseziel des Stabskapitäns. – Feuerstein wird Augen machen! Stehst du denn noch in Verbindung mit Tschernawjensk, Vittorin? – Natürlich! Was hast du denn geglaubt? Selbstverständlich bin ich mit dem Lager in Verbindung geblieben. Ich habe vorgesorgt, ich erfahre alles, was dort vorgeht! – Gewisse vorbereitende Schritte müssen allerdings jetzt schon unternommen werden. Es wird gut sein, wenn Feuerstein das Geld sogleich flüssig macht. Und dann der Pass, die Einreiseerlaubnis nach Russland.
Die Revolution bereitete ihm Sorgen. Gibt es in diesem Chaos überhaupt noch Ämter? Welche Behörde erteilt die Ausreiseerlaubnis? Ich kann doch nicht ohne Paß – Wird der Bahnverkehr mit Russland aufrechterhalten?
Wilde Gerüchte durchschwirrten die Stadt. Tschechisches Militär, hieß es, wolle Wien und ganz Niederösterreich besetzen. Der Kaiser sei bei einem Versuch, die ungarische Grenze zu überschreiten, von revolutionären Truppen verhaftet worden, Wöllersdorf und Wiener Neustadt stünden in Flammen. Ein irrsinniger Militärchauffeur raste mit seinem Auto durch die Straßen und alarmierte die Passanten. Die Serben und die Russen aus dem Kriegsgefangenenlager Siegmundsherberg, rief er, seien, vierzehntausend Mann stark, im Anmarsch auf Wien, man möge die Haustore schließen, wer Waffen habe, solle sich in der Polizeidirektion einfinden.
Die verbürgten Tatsachen waren nicht weniger besorgniserregend. Eine Versammlung von Offizieren und Mannschaftspersonen, die in den Drehersälen tagte, hatte einen neungliedrigen Soldatenrat eingesetzt, um „dem verknöcherten Bürokratismus, dem Dienstreglement, der Feigheit und der Bosheit der herrschenden Klassen ein Ende zu bereiten“. Ein Hauptmann des Stockerauer Schützenregimentes, der die Gründung einer Roten Garde vorschlug, war niedergebrüllt, ein Korporal, der mit heftigeren Worten die gleiche Forderung stellte, auf die Schultern gehoben und bejubelt worden. (Fortsetzung folgt)