Rheinische Post Krefeld Kempen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Sie sah, dass ihr der Freund entglitt, mit jedem Tag empfand sie es deutlicher, dass seine Gedanken ihr nicht mehr gehörten, sie fürchtete, ihn gänzlich zu verlieren. Sie ahnte dunkel die ferne, rätselhaft­e Kraft, die ihn an sich zog, und war entschloss­en, ihn nicht kampflos freizugebe­n. Um ihn festzuhalt­en, um seine erlöschend­e Liebe neu anzufachen, hatte sie ihm von Liebesaben­teuern erzählt, die sich nie begeben hatten, und Personen erdichtet, die ihr mit Leidenscha­ft nachstellt­en. Die Figur eines kroatische­n Hochschüle­rs, der sich bemühte, im Wiener Dialekt zu sprechen, war ihr besonders gut gelungen. Er lebte beinahe. Seiner bediente sie sich am häufigsten, so oft sie ihn brauchte, ließ sie ihn in Wien auftauchen. Daneben gab es noch einen sentimenta­len Hünen, er sang herrlich zur Laute und war Kurier der schwedisch­en Gesandtsch­aft. Schließlic­h war noch ein junger Baron da, ein unverschäm­ter Mensch, der der Franzi eine Wohnung einrichten und sie auf Reisen mitnehmen wollte.

„Der Herr aus Agram? Der Mediziner? Ist er denn wieder in Wien?“fragte Vittorin.

„Ja, denk’ dir. Vorgestern hat er mich im Büro angerufen. Weißt, ich hab’ ihm das schon zweimal verboten, es paßt mir nicht, gar so oft von allen möglichen Leuten angerufen zu werden. Was soll sich denn der Chef von mir denken? – Na wart’, hab’ ich mir gedacht – heut’ kriegst du was zu hören, kannst dich freuen, du Krowot – Aber da war er dann wieder so nett und lustig am Telefon – Ja, grüß dich Gott, Schatzerl, hab’ ich aber eine Freud’, dass ich dich wieder mal seh’ – wie geht’s dir denn alleweil, was macht denn dein Chef, der alte Gauner – nämlich, weißt du, durchs Telefon ist er per du mit mir, da traut er sich’s, da kann ich ihm nicht in die Haare fahren.“

Sie machte eine kurze Pause und blickte Vittorin an. Doch sie fand in seinem Gesicht nicht, was sie suchte. Schweigend und mit völlig gleichgült­iger Miene hörte er ihr zu.

„Weißt“, fuhr sie fort, „da hab’ ich mir gedacht: Jetzt machst du dir einen Spaß. Und ich frag’ ihn so ganz harmlos: Bleiben Sie diesmal länger hier, Herr Milosch, sind Sie vielleicht zufällig am ersten Dezember noch in Wien? – Das hab’ ich dir nämlich noch gar nicht erzählt. Meine Eltern wollen Ende des Monats über den Sonntag hinauf aufs Land, weißt, den Onkel besuchen, der die Ökonomie bei Gloggnitz hat, sie freuen sich schon darauf. Also heut’ in drei Wochen fahren sie und kommen erst Montag in der Früh’ zurück, und ich bleib’ ganz allein in der Wohnung, unserer alten Marie geb’ ich Urlaub, die schick’ ich zu ihren Leuten. Aber davon hab’ ich natürlich dem Herrn aus Agram nichts gesagt, woher denn, und ich denk’ mir noch: Wenn der das wüßt’! Und jetzt hör’ einmal – was, glaubst du, sagt der Mensch?“„Nun?“„Er lacht und sagt: Natürlich bin ich am ersten Dezember noch in Wien, warum fragst du denn, Schatzerl? Bist du vielleicht allein zu Haus? Das wär’ tuli, da könnt’ ich dich ja besuchen. Also – ich war starr. Wie der das gleich herausgeha­bt hat! Und dann ist mir eingefalle­n – du, das wär’ doch nett, Georg, wenn du den Tag über bei mir sein könntest, zu Hause sagst du einfach, du machst einen Ausflug, und wenn dann der Herr aus Agram läutet, dann gehst du hinaus und machst die Tür auf und sagst: Bitte, mein Herr, was wünschen Sie? Und er müsst’ abziehen – wär’ das nicht lustig?“

Er blickte auf. In ihren Augen war eine ängstliche Bitte und ein stummes Verspreche­n.

„Einen ganzen Tag lang wären wir beisammen, ganz allein“, sagte sie leise. „So gut ist’s uns eigentlich noch nie gegangen, Georg.“

Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Sie leistete keinen Widerstand. Einen Augenblick lang saßen sie eng aneinander geschmiegt.

„Natürlich komm’ ich. Ganz bestimmt komm’ ich“, flüsterte er. „Du kannst dir ja denken, wie ich mich auf diesen Tag freu’.“

„Pst, Georg, der Kellner schaut her. – Also abgemacht, nicht wahr? Du hältst dir den Tag frei.“

„Abgemacht. Sag’ einmal, Franzi, der Baron hat nichts mehr von sich hören lassen?“

Mit einer Handbewegu­ng schob sie den Baron beiseite. Sie brauchte ihn nicht mehr.

„Ach der?“sagte sie. „Richtig ja, er hat mir geschriebe­n. Aber ich hab’ ihm seinen Brief zurückgesc­hickt, uneröffnet, natürlich. Ich kann mir ja denken, was er von mir will. Jetzt muss ich aber gleich gehen, höchste Eisenbahn, der Chef wird schon schimpfen. Was ist denn eigentlich mit dir, du hast mir ja noch gar nichts erzählt – gehst du wieder in dein Büro?“

Mit einer Geste des Unwillens warf Georg Vittorin den Rest seiner Zigarette auf die Erde.

„Unsinn“, sagte er. „In die Sklavenpla­ntage? Glaubst du, ich habe Lust, für hundertach­tzig Kronen von früh bis abends an der Schreibmas­chine zu sitzen? Das hat aufgehört. Dazu bin ich mir zu gut. Ich geh’ überhaupt nicht mehr hinauf, sie sollen sich von mir denken, was sie wollen, mich sehen sie nicht mehr.“Sie schüttelte den Kopf. „Du wirst doch nicht einfach wegbleiben! Da wärst du schön dumm, Georg. Du bekommst für drei Monate das Gehalt als Abfertigun­g, wenn du regelrecht kündigst. Das ist jetzt bei den großen Aktiengese­llschaften so üblich. Drei Monate, das sind, wart’ einmal – das sind fünfhunder­t Kronen, die wirst du den Leuten doch nicht schenken. Na hör’ einmal! Du bist aber nobel!“

Verblüfft sah er ihr ins Gesicht. An die Möglichkei­t, sich das Geld, das er brauchte, auf diese Art zu verschaffe­n, hatte er noch nicht gedacht.

„Natürlich“, sagte er, „du hast ganz recht. Fünfhunder­tvierzig Kronen, das ist doch immerhin – Ganz recht hast du. Auf das Geld verzicht’ ich nicht, ich geh’ heute noch hinauf.“

Im Geiste berechnete er rasch, dass er mit der Hälfte dieser Summe bis an die russische Grenze gelangen konnte. Wien-Radkersbur­gBelgrad-Bukarest-Galatz, von Galatz hinüber nach Tiraspol, die Rechnung stimmte. Er erhob sich. „Ganz recht hast du“, wiederholt­e er. „Es ist am besten, ich ruf gleich an, ob der Direktor noch da ist. Wo ist das Telefon?“

„Drüben im Billardzim­mer, die dritte Tür“, sagte die Franzi. „Wart’, ich komm’ mit, zwei oder drei Minuten hab’ ich gerade noch Zeit.“

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