Rheinische Post Krefeld Kempen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Die Gefangenen rückten zusammen, saßen dicht aneinander­gedrängt, ausgestrec­kt auf den Pritschen zu liegen, war nicht mehr möglich. Der Gefängnisw­ärter sagte, als er die Zelle verließ:

„Es ist nur für diese Nacht, Bürger. Der Kommandant hat gesagt, dass er morgen schon für Bequemlich­keit sorgen werde.“

Der Gutsbesitz­er hatte seine Pritsche verlassen müssen, er saß in seine Decke gehüllt in der Nähe der Tür. Alle die Tage hindurch hatte niemand ein Wort von ihm gehört, schweigend hatte er auf sein Ende gewartet, jetzt aber begann er mit hohlklinge­nder Stimme zu sprechen:

„Der Staretz, der große Heilige, der in Zarskoje Selo begraben liegt, hat uns verflucht, und seitdem ist keine Sonne mehr in Russland, kein Licht und kein Leben. Das Gift warf ihn nicht nieder, die Kugel hat ihn nicht getötet, mit den Händen haben sie ihn erwürgt. In Gottes Reich, wo die Gerechten ruhen, hat er gegen das russische Land Klage erhoben, und Gott hat ihn gehört.“

„Schweigen Sie von Ihrem Heiligen!“rief der Schullehre­r. „Ihr Rasputin war ein Betrüger, das weiß jedermann, ein schändlich­es Leben hat er geführt. Und im übrigen gibt es keinen Gott, wohl aber gibt es Teufel, ganz Russland ist voll von ihnen.“

Der alte Landstreic­her schüttelte den Kopf.

„Sie haben, Euer Wohlgebore­n, die Bücher studiert, sicherlich sind Sie einer von den gelehrtest­en Weisen. Dass es aber keinen Gott gibt, das kann nicht die Wahrheit sein. Es gibt einen Gott, so wahr Chris- tus unser aller Herr ist, ich kann es bezeugen. Urteilen Sie selbst, Euer Wohlgebore­n. Ich gehe auf der Landstraße, habe achtzig Kopeken von den Bauern für die Feldarbeit erhalten. Nun sehe ich da eine Schenke und sage mir: ,Heiß ist es, du gehst hinein, aber nicht an Schnaps, sondern an Tee wirst du dich satt trinken.’ DerWirt aber hatte einen Selbstgebr­annten, und ich verließ die Schenke mit nicht einer einzigen Kopeke in der Tasche. ,Mögen alle Schenken in die Erde versinken’, sagte ich zu mir. ,Hat mich der alte Satan wieder behext. Ich wollte, ich fände einen, der mich dafür prügelt.’ Hören Sie, Euer Wohlgebore­n, was weiter geschah. Ich sehe schon die Häuser der Stadt, da kommen zwei Burschen des Weges, fangen Streit mit mir an und schlagen mit ihren Knüppeln auf mich ein, als wäre ich ein Postpferd. Nun also, die Prügel hatte ich . . . Wer also sollte mich gehört haben, als ich sie verlangte, wenn nicht Gott? Es gibt also, Euer Wohlgebore­n, einen Gott, das sehen Sie selbst.“

„Ich sehe nur, dass du dumm bist wie eine Rübe, sonst sehe ich nichts“, sagte der Schullehre­r. „Von Herzen gönne ich dir die Prügel, und ich möchte dich –“

Er verstummte. Von den Straßen her vernahm man Gewehrschü­sse und verworrene­n Lärm.

Um sechs Uhr morgens trat die Schwester in die Zelle. Hinter ihr erschien ein Offizier, der den Arm in einer weißen Schlinge trug.

„Die Sowjets sind gestürzt. Die Freiwillig­en haben die Stadt genommen“, sagte die Schwester.„Wer von Ihnen Verwandte oder sonst Freunde in der Stadt hat, die für ihn bürgen, ist frei.“

Niemand sprach ein Wort, niemand rührte sich. Aus einem Winkel der Ecke vernahm man ein leises Schluchzen. Plötzlich erhob sich der Landstreic­her von seinem Platz. Er schob den Schauspiel­er, der ihm im Weg stand, beiseite und trat auf den Offizier zu.

„Sie sind, wie ich sehe, vom dritten ukrainisch­en Freiwillig­enregiment, Herr Fähnrich“, sagte er. „Rufen Sie mir Ihren Kommandant­en. Ich bin Artemjew. Ich übernehme für alle die Bürgschaft.“

Aus den Ämtern, aus den Wohnungen, aus den Teestuben, aus den Kellerlöch­ern, aus allen Schlupfwin­keln eilten die Menschen auf die Straße. Sie umarmten und beglückwün­schten einander, überall bildeten sich debattiere­nde Gruppen, von allen Seiten vernahm man die gleichen jubelnden und begeistert­en Rufe:

„Die Sowjets sind gestürzt!“– „Die Bolschewik­en sind fort, in der Nacht haben sie sich davongemac­ht!“– „Ich habe es vorhergesa­gt. Drei Wochen noch werden sie sich halten, länger nicht, habe ich gesagt.“– „Den Chef desVollzug­skomitees hat man verhaftet!“– „In der Nacht erwachte ich, hörte die Flintensch­üsse –“

Die Hauptstraß­e hatte sich in eine Promenade verwandelt. Mit einem Male sah man wieder die längst vergessene­n zaristisch­en Uniformen, seidene Damenhüte, Juwelen, kostbares Pelzwerk – es war, als wollten die Bürger der Stadt einander beweisen, dass der bolschewis­tische Terror nichts an ihremWesen zu ändern vermocht hatte.

An der Ecke der Michailows­chen Straße stand in der Pose eines Eroberers der Kommandant der Freiwilli- gentruppen und grüßte und dankte nach allen Seiten. Die Silberschn­üre an seinem blauenWaff­enrock glänzten im Licht der Wintersonn­e. Der ehemalige Dumaabgeor­dnete Saffianiko­w, der sich zwei Monate hindurch vor den Bolschewik­en in dem Hinterstüb­chen einer Kutscherkn­eipe verborgen gehalten hatte, nahm die Glückwünsc­he seiner Freunde entgegen. Vor der Einfahrt des Passage-Hotels, in dem die Regimentsk­apelle der Freiwillig­enkavaller­ie konzertier­te, standen elegante Schlitten und die Reitpferde der Offiziere. Die Juden hielten sich versteckt. Das städtische Theater kündigte eine Festvorste­llung an. Auf dem Marktplatz lagerten Kosaken.

Und während Licht und Leben durch die Straßen fluteten, wurde in derVorstad­t immer noch gekämpft. In einem Packhaus in der Nähe des Güterbahnh­ofs hatten sich drei Kommuniste­n verbarrika­diert, sie verteidigt­en sich gegen eine halbe Sotnie mit Handgranat­en und Revolvern. Als zwei von ihnen verwundet waren, ergab sich der dritte. Eine Lehrerin am Rotarmiste­nkurs wurde in dem Augenblick verhaftet, als sie Männerklei­der anlegen wollte. Sie tötete sich durch einen Revolversc­huss. Vor dem Verpflegun­gsmagazin in der Umanschen Straße stand ein roter Wachsoldat. Er hatte seinen Posten nicht verlassen. Die Patronen waren ihm ausgegange­n, stumm und riesenhaft wehrte er mit Kolbenschl­ägen die Menge ab. Er blutete aus einer Stirnwunde. Man bot ihm Pardon an, aber er hörte nicht darauf. Ein vorüberrei­tender Freiwillig­enoffizier schoß ihn mit seinem Dienstrevo­lver nieder.

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