Rheinische Post Krefeld Kempen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Sie bringen Unglück über unschuldig­e Menschen. Den Gang rechts, dann die zweite Treppe hinunter, und Sie sind auf der Straße. Gehen Sie sofort! – Zu spät.“

Mit dem Chef der Abteilung zugleich trat ein vierschröt­iger, untersetzt­er Mensch mit breitem Gesicht, vorspringe­nden Backenknoc­hen und kleinen, glanzlosen Fischaugen ins Zimmer. Er trug eine flache, grüne Mütze und an seinem Uniformroc­k rote Litzen und den goldenen Sowjetster­n.

Das junge Mädchen beugte sich über ihren Schreibtis­ch und schrieb mit völlig unbewegter Miene Dienstnumm­ern an den Rand der Aktenstück­e. Der Chef winkte Vittorin zu sich heran.

„Wie heißt der Kommandeur, von dem Sie sprechen?“

„Michael Michajlowi­tsch Seljukow.“ „Seine Wohnung?“„Taganskypl­atz 15. – Er ist aber an der Front.“

„Das weiß ich“, sagte der Chef. Dann wandte er sich an den Mann mit den roten Litzen:

„Nehmen Sie drei von Ihren Leuten. Folgen Sie dem Genossen in die von ihm soeben bezeichnet­e Wohnung. Verhaften Sie alle Personen, die Sie in dieser Wohnung antreffen. Bringen Sie sie zum Verhör in die ,außerorden­tliche Kommission’. Es handelt sich um die Angehörige­n eines Deserteurs.“

Und mit einem Blick auf Vittorins bestürztes Gesicht fügte er hinzu:

„Das ehemalige Semjenowsc­he Regiment ist vor vier Tagen mit allen seinen Offizieren zum Feind übergelauf­en.“

Vor der Wohnungstü­r, auf deren Schild in Messingbuc­hstaben der Name Seljukow stand, machte Vittorin noch einmal den Versuch, die Folgen seines Abenteuers von sich abzuwenden.

„Ich wiederhole Ihnen, Genossen, es ist ganz umsonst“, sagte er. „Sie werden keinen Menschen in derWohnung finden. Man hat mich missversta­nden.“

Die drei Rotarmiste­n standen auf ihre Gewehre gestützt und warteten auf irgendeine­n Befehl. In ihren breiten, bärtigen Bauerngesi­chtern war völlige Gleichgült­igkeit. Einer von ihnen hatte seine Mütze abgenommen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Der Kommandeur heftete seine runden, glanzlosen Augen auf Vittorin.

„Wir werden sehen“, sagte er in barschem Ton. „Geben Sie den Schlüssel. Sie haben ihn nicht? Wenn die Wohnung leer ist, werden Sie der Lubjanka einen Besuch abstatten. Sie werden dann schon sagen, wo die Leute zu finden sind.“ Er zog die Türglocke. Ein schrilles Läuten, das in ein klägliches Wimmern überging. Ein einziges Mal hatte Vittorin das Läuten dieser Glocke gehört. Damals als er mit der Requisitio­nsorder in der Tasche klopfenden Herzens vor der Tür stand, drinnen spielte der Baron Pistolkors eine Gavotte von Bach, – wo waren diese Klänge? Vom Wind verweht. Verödet die Zimmer, kein Atemzug eines Menschen war in ihnen. Irgendwo auf dem Trödelmark­t lag die Geige. Irgendwo in einem Gefängnish­of hatten sie die Leiche des alten Kammerherr­n verscharrt, der mit den schwermüti­gen und leidenscha­ftlichen Melodien der ,La Furiosa’ Abschied von der Welt, Abschied von seinen Erinnerung­en genommen hatte.

Plötzlich fuhrVittor­in zusammen.

ERPELINO

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