Rheinische Post Krefeld Kempen
Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Der Hauptmann legt den Hörer hin und wendet sich dem Regimentskommissär und den beiden Unterkommandanten zu: „Sie haben gehört. Es sind jetzt die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Ihr Bataillon, Genosse Stassik –“
Die drei Männer beugen sich schweigend über die Karte.
Aus dem Schatten der Nacht lösen sich Bäume und Büsche. Langsam färbt sich der Himmel, über den fahlen Hügeln dämmert der Morgen. Die Rotarmisten kauern hinter den flüchtig aufgeworfenen Deckungen, ihre Mäntel triefen, in den Erdlöchern hat sich trübes, gelbes Regenwasser angesammelt. Über ihren Köpfen singen die Gewehrkugeln; wenn sie gegen Steine oder in Baumstämme fahren, klingt es wie Peitschenknall. Die Artillerie tastet das Gelände ab. Ein fernes Grollen und Donnern, dann kommt es heulend durch die Luft geritten, eng an die Deckung schmiegt sich der Körper, und irgendwo zwischen den Ackerfurchen steigt eine braune Erdsäule in die Höhe.
Vittorin hat sich hinter dem niedrigen Erdwall ein wenig aufgerichtet, er hält das Spateneisen, an dem die feuchte Ackererde klebt, schützend über seinen Kopf. Drüben im Westen tobt der Artilleriekampf, ohne Unterlass brüllen die schweren Geschütze des Feindes. Schwarze und schwefelgelbe Wolkenfetzen hängen über den Höhenrücken. Eisen und Feuer fährt aus ihnen nieder. Dennoch arbeitet sich die Schützenlinie vor. Man sieht nicht viel, nur eine unendliche Kette weißer Wattewölkchen, die der Wind zer- streut, und manchmal sind winzige Gestalten zu erkennen, – sie sausen den Hang hinunter, werfen sich nieder und sind im Erdboden verschwunden.
Dort drüben wird die Entscheidung fallen, das weiß Vittorin. Er schließt die Augen, und sogleich kommt Traumverworrenheit in seine Gedanken. Die dort laufen und schießen, sind alle mit ihm im Bund, seine Sache haben sie auf sich genommen, er darf liegen und ausruhen. Ein Telegramm aus Moskau mit dem Siegel des Kreml, heute Mittag eingetroffen, sofort an allen Fronten zu verlautbaren „ – ist zu verhaften.“Vorwärts, dort steht er in Reithosen und hohen Lackstiefeln, die Reitpeitsche in der Hand, ganz allein steht er, aber sein Gesicht ist nicht zu sehen, eine ungeheure schwefelgelbe Wolke ist über seinen Schultern aufgetürmt, niemand weiß, daß es Seljukow ist. – Ist zu verhaften! Da sind sie schon, die Rotarmisten, aus der Erde sind sie gewachsen, sie erkennen ihn, von allen Seiten kommen sie heran, sie haben ihn eingekreist. Er aber steht, er geht nicht zurück, sein Atem ist Feuer, und aus der Wolke über seinen Schultern dröhnt und donnert es ihnen entgegen: „Pascholl!“Das Dunstgespinst des Traumes zerreißt, Vittorin fuhr auf. Ein Sprengstück sauste über seinen Kopf hinweg, zehn Schritte vor der Deckung hatte eine Granate eingeschlagen. Eine wütende Gewehrsalve peitschte den Erdwall. Und nun, da das Feuer sekundenlang schwieg, tauchte drüben bei den Wacholderbüschen eine Gestalt aus dem Boden. Sie lief, warf sich nieder, war in einer Ackerfurche verschwunden, kam wieder zum Vorschein, jetzt konnte man das Gesicht erkennen, es war Beresin, er lief, setzte mit einem Sprung über den Erdwall und lag ausgestreckt neben Vittorin.
Er kam aus demVorfeld, er kannte das Gelände. In wilden Stößen holte er Atem. Und dann begann er im Lärm der Schlacht Vittorin die Lage zu erklären.
„Es steht nicht gut. Der rechte Flügel ist zurückgenommen, die Weißen gehen zum Gegenstoß vor. Sehen Sie die Leuchtkugeln? Die Unseren fordern Artilleriefeuer an.“
Er holte seinen Notizblock aus der Tasche und schrieb eine Meldung nieder. Mit ein paar flüchtigen Strichen zeichnete er den Situationsplan, er hatte die Stellung zweier feindlicher Maschinengewehre erkundet. Den Zettel übergab er Vittorin. Dann verließ er die Deckung, denn drüben in einem Granatloch warteten seine Leute auf ihn. Vorsichtig pirschte er sich durch das von Kugeln zerwühlte Gelände, zwischen den Wacholderbüschen verschwand er so plötzlich, wie er aufgetaucht war.
Ein paar Schritte hinter der Stelle, an der die Schützenlinie einen stumpfen Winkel bildete, hatte sich der Rottenführer eingegraben. Er war jung und hatte flachsblondes Haar, und man nannte ihn im Regiment wegen seines mädchenhaft zarten Teints Ssonjetschka. Er war seit sieben Monaten an der Front, vom Hornisten hatte er es zum roten Offizier gebracht.
Ihm übergab Vittorin die Meldung Beresins. Ssonjetschka las sie und faltete das Papier zusammen. Dann suchte er durch sein Fernglas das vom Feinde besetzte Gelände ab.
„Wir müssen vorgehen und die Maschinengewehre beseitigen. Keine Zeit ist zu verlieren“, sprach Vittorin mit heiserer Stimme auf ihn ein.
Ssonjetschka legte das Fernglas neben sich auf die Erde und schüttelte den Kopf.
„Das ist Sache der Artillerie“, meinte er. „Sie sehen aus, Genosse, wie der Teufel am Wasserweihtag. Sind Sie krank?“
„Fieber. Aber der Feldscher und ich, wir haben kollektiv beschlossen, dass es nichts ist“, sagte Vittorin mit einem schwachen Versuch zu lächeln. Doch schon im nächsten Augenblick bekamen seine Züge wieder ihren gespannten und fanatischen Ausdruck. In seinem fieberkranken Hirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass er mit seiner Rotte in das Dorf gelangen und Seljukow die Rückzugslinie verlegen müsse. „Wir dürfen nicht länger hier liegenbleiben“, fuhr er fort. „Es scheint, dass unsere Offensive zum Stillstand gekommen ist.Werden wir nicht endlich losgehen und in den Kampf eingreifen?“
„Ich habe keinen solchen Befehl erhalten“, gab Ssonjetschka zur Antwort. „Das Terrain ist nicht gut. Dreihundert Schritte ohne Deckung in steigendem Gelände. Wir werden nicht vorgehen. Wir bleiben liegen, bis uns der Regen fortschwemmt, das ist schon sicher. – He, du, Genosse!“
Er winkte einen Rotarmisten aus der Schützenlinie zu sich heran.