Rheinische Post Krefeld Kempen
Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Hier wiesen sie mit Handgranaten und Gewehrkolben noch einmal den Gegner ab. Einige Minuten später, als der Dachfirst des Hauses zu brennen begann, beschlossen sie, sich zu ergeben.
Unter den Gefangenen, die halb betäubt vom Qualm des glimmenden Schuttes aus dem Hause traten, befand sich Vittorin.
Jetzt lag er im Hof der zerstörten Zuckerfabrik, deren rauchgeschwärzte Mauern ihm, wenn sie morgens aus dem Nebel tauchten, als etwas unerreichbar Fernes und Geheimnisvolles erschienen waren, als begänne dort, wo sie standen, eine andere Welt. Hier lag er nun, und längs der Mauern kauerten mit müden, mit verzweifelten und mit stumpfen Gesichtern die anderen Gefangenen dieses Kampfes. Zwei Wächter in der Uniform der Kubankosaken standen, auf ihre Karabiner gestützt, in der Mitte des Hofes, und ein dritter saß auf der Deichsel eines Leiterwagens und spielte Ziehharmonika.
Nun kam das Ende seines Abenteuers. Mit erhobener Stirn, als freier Mensch, hatte er Seljukow entgegentreten wollen. – Das gilt nicht! hatte das Schicksal gesagt und ihn zurück in das Lager von Tschernawjensk geschleudert. Da lag er nun und war im Kreis gegangen, wieder war er nur ein Gefangener, und wieder war Seljukow der Herr. Das muss so sein, es war vorbestimmt. Krank, gefangen, niedergeworfen, wehrlos – so wollte ihn das Schicksal in der Stunde der Abrechnung.
Nein. Er war nicht wehrlos. Damals, ja, in Tschernawjensk, damals hatte er an die Heimat und an das Vaterhaus gedacht und an das Wiedersehen, – das lag nun hinter ihm und war nichts gewesen. Durch das Grauen der Zeit war er gegangen, und sein Leben galt ihm nichts mehr.Wenn jetzt Seljukow kam, war er bereit.
Er sah sich Seljukow gegenüber. – Er ist es, an seiner Brust den Wladimirorden und das Georgskreuz – Michael Michajlowitsch! Erkennen Sie mich? Ja! Seljukow erkannte ihn, er wusste, was ihn erwartete, und wurde bleich. Ein Schlag in dieses hochmütige Gesicht, aus dem alle Laster der Welt starrten und alle Schlechtigkeit einer verruchten Zeit. Ein Schlag und noch einer. Seljukow taumelte zurück und zog den Säbel, – aber er, Vittorin, war nicht mehr da, das Lager von Tschernawjensk war ja schon lange aufgelöst – wo war er? Er stand in einem Bauernhaus, auf den hölzernen Fensterläden waren Sonnenblumen und weiße Rosen gemalt, und vor der Tür lag ein struppiger Hund, der ließ keinen ein, „ein Toter ist er, und Tote bewacht er“, sagte eine Stimme, die klang wie Ziehharmonika. Woher kam nur dieser Schmerz, unaufhörlich bohrte es an seinen Schläfen und in seiner Brust. Die Kugeln pfiffen, Vittorin kniete hinter seinem Holzstoß und schoss, und plötzlich war Beresin neben ihm, Beresin mit verzerrtem Gesicht – „Wer hat diesen Befehl gegeben? Sie? Warum taten Sie das?“– „Warum? Es musste so sein. Es war vorherbestimmt. Sehen Sie denn nicht? Alle Laster der Welt starren aus diesem Gesicht –“
Schwer wie Eisen waren Vittorins Lider, die Augen fielen ihm zu, Träume kamen und rissen ihn mit sich fort. Durch Ströme von Eis rissen sie ihn und durch den glühenden Sand derWüste, inWirbelstürme und hinunter in dämmernde Tiefen. Dann wurden sie seiner müde und gaben ihn frei, und er tauchte empor in das Licht des Tages.
Von der Mitte des Hofes her kam in singendem Ton ein Kommandoruf: „Auf! Sammelt euch!“
Schlaf und Schmerz fielen vonVittorin ab wie Blutegel, die sich sattgetrunken haben. Die Stunde war gekommen. Er richtete sich auf, stand kerzengerade. Rechts und links von ihm ordneten sich die Gefangenen in einer Reihe.
„Kommissäre, rote Offiziere, organisierte Kommunisten – tretet aus!“befahl der Unteroffizier.
Mit vier anderen trat Vittorin aus der Front der Gefangenen. Ein fünfter folgte nach einem Augenblick des Zögerns. Hinter ihnen schloss sich die Reihe. „Halt!“Sie blieben stehen. Der Mann neben Vittorin sagte leise:
„Uns werden sie erschießen, uns sechs, das ist sicher. Gut. Mögen sie über mir die Erde pflügen. – Da ist er schon, der Pfeifer.“„Wo?“rief Vittorin. „Dort geht er, der Verfluchte. Sehen Sie ihn nicht?“
„Euer Hochwohlgeboren, siebenundzwanzig Gefangene“, hörte man die Stimme des Unteroffiziers. „Sechs von ihnen sind Organisierte.“
Durch einen Schleier von rotem Nebel, der sich vor seinen Augen senkte, sah Vittorin das Gesicht des Dämons, den er verfolgte, er sah Seljukow und stieß einen Schrei aus und stürzte vor:
„Michael Michajlowitsch! Erkennen Sie mich?“
Der Offizier wendete den Kopf und erblickte einen Menschen, der taumelnd wie ein Betrunkener auf ihn zukam. Er hob den Revolver und ließ ihn wieder sinken.
„Sie sind es? Um des Himmels willen, wie kommen Sie unter diese hier?“rief er bewegt. „Sind Sie denn Bolschewik geworden?“
„Bolschewik geworden“, wiederholte Vittorin. Er begriff nicht, wohin Seljukow verschwunden war und dass jetzt ein anderer an dieser Stelle stand, einer, den er kannte, jener Rittmeister, der in Nowochlowynsk den Boden gefegt hatte, – was wollte er hier und wo war Seljukow?
„Sagen Sie mir um Gottes willen die Wahrheit!“rief der Rittmeister. „Hat man Sie gezwungen, an die Front zu gehen? Warum kämpfen Sie gegen Russland?“
„Freiwillig an die Front gegangen“, stammelte Vittorin. Er starrte an dem Rittmeister vorbei ins Leere und suchte Seljukow und fand ihn nicht. – Fort. Verschwunden.
„Es ist gut“, sagte der Rittmeister. „Sie können gehen. Auch solchen, wie Sie einer sind, hält ein russischer Offizier sein Wort. Sie können gehen, ich habe nicht vergessen. Verstehen Sie nicht? Sie sind frei, Sie können gehen.“
Vittorin verstand. Er machte einen Schritt, doch die Kraft, die ihn bis zu dieser Sekunde geführt und aufrecht erhalten hatte, war in ihm erloschen. Er taumelte und fiel zu Boden, und Nacht und Stille schlugen über ihm zusammen. Der Unteroffizier riss ihm Mantel und Jacke auf.
„Ich habe es mir, Euer Hochwohlgeboren, gedacht“, meldete er. „Fleckfieber schicken sie uns von drüben. Er hat schon auf der Brust den Ausschlag.“