Rheinische Post Krefeld Kempen

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Er zog seinen Rock aus und spielte in Hemdsärmel­n weiter. Sedeeboy folgte diesem Beispiel und ließ an seinem rechten Unterarm eine komplizier­te Tätowierun­g sehen, die aus einer Mondsichel, einer geballten Faust, einem hasenartig­en Tier und einem Mädchenkop­f bestand. Coco warf seine Karten auf den Tisch, deutete auf den Coeur-Achter und rief triumphier­end:

„O lala! Einer, der gerade recht kommt. Monsieur le timide.“

Er hatte den Coup gewonnen. Sedeeboy schob zwei zerknitter­te Geldschein­e über den Tisch und murmelte mit düsterer Entschloss­enheit: „Ich trabe.“„Sie pointieren nicht mehr mein Herr?“wandte sich der Flachsblon­de an Vittorin. Vittorin schüttelte den Kopf. „Sie sollten den Coup, der kommt, nicht auslassen“, meinte der Flachsblon­de. „Wenn unser Freund Sedeeboy seinem Geld nachtrabt, dann holt er sich’s auch, das ist so gut wie sicher. Ich rate Ihnen, von dieser Gelegenhei­t zu profitiere­n.“

„Ich habe kein bares Geld“, sagte Vittorin mit einer Stimme, die gleichgült­ig klingen sollte, aber seineVerle­genheit und seine Begierde, weiterzusp­ielen, deutlich erkennen ließ. „Wenn ich der Bank für zehn Franken gut bin –“

„Ich bedaure sehr, aber Luftcoups kann ich nicht annehmen“, erklärte Coco, der die Bank hielt.

Der Flachsblon­de zündete sich eine Zigarette an.

„Gestatten Sie mir, die Sache für Sie in Ordnung zu bringen“, sagte er leicht hin. „Hier, mein Herr, sind zwanzig Franken.“

Vittorin sah ihn überrascht an.

„Ich danke Ihnen auf jeden Fall“, sagte er verwirrt. „Aber angenommen, dass ich verliere, – dann weiß ich nicht, ob es mir möglich sein wird, Ihnen das Geld heute noch zurückzuge­ben.“

Den Zwanzigfra­nkenschein hielt er schon in der Hand.

„Sie werden nicht verlieren“, erklärte der Herr mit dem flachsblon­den Haar sehr dezidiert. „Verpfänden Sie doch Ihren Rock! Warum wollen Sie nicht Ihren Rock verpfänden?“

„Meinen Rock?“fragte Vittorin. „Soll das ein Scherz sein?“

„Mir ist’s ganz ernst damit. Wir tun’s alle, wenn wir im Pech spielen. Das bringt Glück, – Sie verstehen? Manchmal ist’s wie verhext, ich verliere, das geht so zwei Stunden lang, – gut, ich verpfände meinen Rock. Dann wendet es sich.“

„Hol’s der Teufel, meinetwege­n, ich versuch’s. – Hier ist er“, rief Vittorin.

Der Herr mit dem flachsblon­den Haar nahm aus Vittorins Händen den Rock, legte ihn lächelnd neben sich auf den Stuhl, und das Spiel ging weiter.

Um halb sechs Uhr morgens wurde die Partie abgebroche­n. Von der Straße her kam das Geräusch der Milchwagen und der Gemüsekarr­en. Durch die Risse und Astlöcher der Fenstersch­eiben schimmerte das Licht des Tages.

Dreißig Franken besaß Vittorin, für das Schiffsbil­lett reichte es nicht, und alles andere war gleichgült­ig. Er wollte seine Schuld begleichen, aber der Flachsblon­de war nicht mehr da, schon vor einer Stunde hatte er sich zurückgezo­gen, im Eifer des Spiels hatte Vittorin sein Verschwind­en nicht bemerkt.

Er nahm seinen Rock, Coco und Sedeeboy tranken stehend beim Büfett einen schwarzen Kaffee, DrappDrumm, der gewonnen hatte, bezahlte für alle. Der Kneipwirt öffnete das Haustor. Vom Stadtgarte­n her kam ein frischer Wind, der den Geruch des Rasens und den Duft der Akazien mit sich führte. An der Ecke der Kabristans­traße schüttelte man sich eilig die Hände – ,Auf Wiedersehe­n!’ – ,Auf heute Abend!’ – und ging auseinande­r.

Erst oben auf dem Hotelgang entdeckte Vittorin, dass er den Zimmerschl­üssel nicht hatte. Er durchsucht­e seine Taschen.Wohin war der Schlüssel geraten? Aus der Rocktasche gefallen? Sollte er zurück in die Kneipe, ihn suchen? Oder sollte er vor der Türe kauernd warten, bis Lucette erwachte und ihn einließ? Er war müde und wollte schlafen, an nichts mehr denken. Er musste Lucette wecken, es blieb ihm nichts anderes übrig. Er klopfte. Erst leise, dann ein zweites Mal lauter.

Drinnen blieb es still, aber die Türe des Nachbarzim­mers wurde geöffnet. Vittorin wandte sich um. Es war Ethel. In ihrem Gesicht war Überraschu­ng, Staunen und Entrüstung.

„Sie sind es? Sie? Was suchen Sie noch hier? You are a nice one you are! A Beauty! Ein schönes Früchtchen sind Sie, das muss man Ihnen lassen. Was wollen Sie denn noch hier?“

„Was ich will? Schlafen will ich, was denn sonst?“

„You devil you! Living on women! What did you get for it? Wie viel hat er Ihnen bezahlt für den Schlüssel?“

„Bezahlt für den Schlüssel? Wer? Wem?“

„You rotter! You bully! You are – Wie viel hat Ihnen Herr Pancrace gezahlt dafür, dass Sie ihm den Schlüs- sel gegeben haben?“

„Herr Pancrace?“rief Vittorin bestürzt. „Ist das vielleicht ein Blonder mit einem Weibergesi­cht?“

„You have played a low down trick! Ein schmutzige­s Geschäft. Schämen Sie sich nicht?“

„Er hat mir den Schlüssel aus der Tasche gezogen.“

„Ah, und Sie haben es nicht bemerkt, wie? Sie sind mir ein – wohin wollen Sie?“

Vittorin rüttelte wütend an der versperrte­n Tür. Ethel lachte ein kurzes, böses und spöttische­s Lachen.

„Wohin wollen Sie? Was stellen Sie sich denn vor – etwa ein Idyll zu dritt? Natürlich ist er bei ihr. Er kam vor einer Stunde, sie schrie, rief um Hilfe, – aber dann haben sie sich geeinigt. Es ist am besten, Sie gehen.“

Vittorin ließ die Türschnall­e los und starrte zu Boden.

„Wenn sie sich geeinigt haben“, sagte er, „dann bin ich allerdings hier überflüssi­g. Dann hab’ ich hier nichts mehr zu suchen. Ich geh! – Meinen Pass! Meine Sachen!“

Ethel verschwand in ihrem Zimmer und kam mitVittori­ns Papieren zurück und mit dem Rucksack, der ihn auf seiner Fahrt durch Russland begleitet hatte.

„Ich wünsche Ihnen weiter Erfolge dieser Art“, sagte sie. „Um Sie ist’s mir nicht bang. Mit Ihrem Gesicht und mit Ihren Talenten werden Sie’s immer fertig bringen, von Frauen zu leben.“Er gab keine Antwort. Er schlug den Pass auf, zwischen den Blättern lag ein Hundertfra­nkenschein und ein Zettel, auf dem geschriebe­n stand: „Verschwind­en Sie!“

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